Verena Schäffer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU, die auch durch NRW gezogen ist, die in Dortmund gemordet hat, die zwei Anschläge in Nordrhein-Westfalen in Köln begangen hat, die Menschenleben aufs Spiel gesetzt hat, hat eine menschenverachtende Haltung gezeigt. Diese Taten haben uns alle erschüttert. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land fragen sich zu Recht, wie es eigentlich sein kann, dass diese Terrorgruppe zehn Jahre unerkannt in Deutschland unterwegs sein konnte und morden konnte.
Vor diesem Hintergrund ist es gut und richtig, dass jetzt im Bundestag ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet wurde und dass man auch in Thüringen einen entsprechenden Untersuchungsausschuss eingerichtet hat.
Auch wenn wir hier in Nordrhein-Westfalen noch keine Erkenntnisse haben, dass die Sicherheitsbehörden mitverantwortlich für diese Ermittlungspannen waren, muss sich der Landtag NRW sehr wohl mit notwendigen Konsequenzen, mit der Arbeit des Verfassungsschutzes, aber auch mit einer wirksamen Prävention auseinandersetzen.
Mit der Festnahme von Carsten S. in der letzten Woche in Düsseldorf ist auch für uns klar geworden, dass Nordrhein-Westfalen nicht nur ein Tatort dieser Terrorgruppe war, sondern dass sie unter Umständen auch in Nordrhein-Westfalen ein Unterstützungsnetzwerk hatte. Mit dieser Festnahme von Carsten S. hat sich zwangsläufig auch der Fokus unserer Diskussion noch einmal ein Stück weit verändert. Es ist unsere Aufgabe als NRW-Abgeordnete, entsprechend hinzuschauen und Fehler aufzudecken.
(Beifall von den GRÜNEN und von der SPD)
Da stellt sich für mich schon die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen erst seit zweieinhalb Monaten, also erst seit November letzten Jahres, Erkenntnisse über Carsten S. hat. Darüber, dass der Thüringer Verfassungsschutz den Umzug an die NRW-Behörden hätte melden müssen, sind wir uns wohl einig. Warum das nicht passiert ist, ist aus meiner Sicht auch eine Frage, die man jetzt im Thüringer Landtag im dortigen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss klären muss. Für mich stellt sich aber schon die Frage, warum die NRW-Verfassungsschutzbehörden nicht zumindest nach 2004 entsprechend nachgefragt haben.
Denn am 30. Januar 2004 erschien in der Düsseldorfer Antifa-Zeitung „TERZ“ ein Artikel, der ganz klare Hinweise gegeben hätte. Daraus würde ich gern zitieren. Dort steht:
Bis ungefähr Ende 2000 war dieser – damit ist Carsten S. gemeint – einer der führenden Aktivisten und Funktionäre der Neonaziszene in Thüringen, insbesondere im Raum Jena. Er brachte es bis zum NPD-Kreisvorsitzenden, stellvertretenden JN-Landesvorsitzenden, zum Landesbeauftragten der JN-Bundesführung, sogar kurzzeitig in den JN-Bundesvorstand. Er dürfte zu den wichtigsten Organisatoren und Koordinatoren der damaligen Thüringer Neonaziszene gehört haben, war auch für Schulungen des Nachwuchses und als Versammlungsleiter für Aufmärsche zuständig.
Diese Beschreibungen zeigen sehr eindeutig, welche Rolle und welche Bedeutung Carsten S. in der Thüringer Neonaziszene gehabt haben muss. Carsten S. war dort nicht irgendjemand, sondern er war NPD-Kreisvorsitzender in Jena, in der Stadt, wo 1998 drei Neonazis nach Ausheben eines Waffenlagers untergetaucht waren. Er war stellvertretender Landesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation und damit offensichtlich auch überregional gut vernetzt.
Im Übrigen ist das – mein Kollege hat gerade schon darauf hingewiesen – ein Hinweis darauf, dass die NPD immer wieder mit Personen zusammenarbeitet, dass es sogar personelle Überschneidungen zwischen freien neonazistischen Szenen und der NPD gibt. Ich finde, dass wir die Diskussion über ein erneutes NPD-Verbotsverfahren zu Recht anheizen; denn die NPD, das wissen wir, ist eine verfassungsfeindliche, eine antidemokratische Partei, die immer wieder Gewalttäterinnen und Gewalttäter in ihren eigenen Reihen hat und toleriert und damit die Gesellschaft gefährdet.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Einen blinden Aktionismus, der vorschnell vonstattengeht, finde ich falsch, weil die Voraussetzungen für ein NPD-Verbotsverfahren gegeben sein müssen. Dann muss ein neues Verbotsverfahren aber auch eingeleitet werden.
Carsten S. hat selbst betont – nach eigenen Angaben, aber das sagen uns auch alle möglichen Berichte –, dass er aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen ist. Es gibt unterschiedliche Angaben, wann das gewesen sein soll. Natürlich darf jemand, der ausgestiegen ist, nicht Jahre danach noch vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Ein ausgestiegener, ehemaliger Neonazi, der das glaubhaft machen kann, muss auch die Chance haben, wieder in die Gesellschaft zurückzukehren, zumindest dann, wenn er keine Straftaten begangen hat. Wenn der NRW-Verfassungsschutz den Ausstieg aber nicht selbst unterstützt hat, dann hätte er zumindest die Glaubhaftigkeit des Ausstiegs überprüfen müssen.
Vor diesem Hintergrund, aber auch im Hinblick auf die Tatsache, dass der Innenminister in der vergangenen Woche zwei Pannen beim Verfassungsschutz aufgezeigt hat – ich bin froh, dass er es öffentlich gemacht hat; dabei handelt es sich zum einen um einen Aussteiger, der als V-Mann weitergeführt wurde, zum anderen um einen V-Mann, der erst bei Erreichen von Führungspositionen abgeschaltet wurde –, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Bevölkerung fragt: „Was macht der Verfassungsschutz eigentlich?“ und dass das Vertrauen in den Verfassungsschutz schwindet.
Nicht zuletzt deshalb ist es unsere Aufgabe als Abgeordnete, kritisch zu hinterfragen, hinzugucken und über Änderungen beim Verfassungsschutz hin zu mehr Transparenz und Kontrolle zu diskutieren.
(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und von der LINKEN)
Aus meiner Sicht stehen wir momentan erst am Anfang einer Diskussion, die noch folgen muss. Wir müssen über die Aufgaben und Zuständigkeiten, aber auch die Richtlinien und die Kontrolle des Verfassungsschutzes diskutieren. Wir müssen uns Gedanken über eine gesellschaftspolitische Strategie zur Bekämpfung von Rechtsextremismus machen. Dazu brauchen wir einen festen Rahmen, ein Gremium. Eine konstruktive, nach vorne gerichtete Debatte bekommen wir nicht – ich kann mir vorstellen, dass viele das ähnlich sehen – im Rahmen von Plenarsitzungen innerhalb von anderthalb Stunden oder in Innenausschusssitzungen im Rahmen der normalen Tagesordnung hin.
Wir brauchen eine systematische Diskussion. Dazu gehören für mich die Fragen nach der Neuausrichtung der Ermittlungsbehörden beim Thema Rechtsextremismus und die Frage nach der Effizienz und den Grenzen des Verfassungsschutzes. Wir müssen aber auch darüber diskutieren, wie wir rechtsextreme Strukturen systematisch zurückdrängen können. Wir müssen Ungleichwertigkeitsvorstellungen thematisieren. Dafür brauchen wir eine starke Zivilgesellschaft, ohne die schaffen wir es nicht.
Diese Diskussion erwartet die Öffentlichkeit von uns. Aber auch im Hinblick auf die Angehörigen der Opfer und die Verletzten der Bombenanschläge ist es nur geboten, dass wir die politische Diskussion führen, zu Konsequenzen kommen und diese dann auch einbringen. – Danke schön.
(Beifall von den GRÜNEN, von der SPD und von der LINKEN)
Rede von Matthi Bolte MdL:
Matthi BolteMatthi Bolte (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Biesenbach, Sie sagten, es gebe keinen Grund für diese Aktuelle Stunde. Ich sage Ihnen: Es gibt drei sehr gute Gründe, heute diese Aktuelle Stunde abzuhalten.
In der vergangenen Woche wurden zwei Fälle bekannt, bei denen es in der Vergangenheit erkennbar Probleme beim nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz gab. Und am Tag darauf wurde ein mutmaßlicher Unterstützer des NSU hier in Düsseldorf festgenommen. Über diese Punkte wurden sowohl das Parlamentarische Kontrollgremium als auch der Innenausschuss unterrichtet.
Darüber hinaus hat der Innenminister angekündigt, einen Beauftragten einzusetzen, um Vorschläge zu entwickeln, wie der Verfassungsschutz hinsichtlich Transparenz und parlamentarischer Kontrolle neu aufgestellt werden soll. Das ist – das habe ich in den Debatten seit November 2011 immer wieder betont – ein dringend notwendiger Schritt. Ich fand es – ganz ehrlich – enttäuschend, Herr Biesenbach, dass Sie diesen notwendigen Schritt lediglich kommentiert haben mit der Bemerkung, ob Rot-Grün jetzt den Verfassungsschutz abschaffen wolle. – Herr Biesenbach, ich habe den Eindruck, dass Sie gar nicht wissen, warum wir hier heute diskutieren.
Wir reden darüber, dass eine Gruppe von rechten Terroristen durchs Land gezogen ist, gemordet hat, Anschläge begangen hat, Banküberfälle verübt hat. Wir reden darüber, dass diese rechte Terrorgruppe ein weit verzweigtes Unterstützernetzwerk hatte, dass dieses Trio viel zu lange nicht als terroristische Gruppe erkannt wurde und dass man stattdessen den wirklich menschenverachtenden Begriff der „Döner-Morde“ erfunden hat.
Und jetzt kommen Sie, Herr Biesenbach, und erzählen uns: Beim Verfassungsschutz, war doch alles im Lot, bei den Sicherheitsbehörden war doch alles im Lot. – Aber das ist es eben nicht.
Wir als regierungstragende Fraktionen haben diese Probleme erkannt. Und weil wir diese Probleme erkannt haben, haben wir diese Aktuelle Stunde angemeldet. Der Innenminister hat das, weil diese Probleme erkannt wurden, in der letzten Woche transparent gemacht und einen Beauftragten eingesetzt.
Wir haben all diese Maßnahmen veranlasst, weil wir als Rot-Grün uns mit der rot-grünen Landesregierung der Verantwortung stellen, die aus diesen schrecklichen, diesen menschenverachtenden und diesen viel zu lange unentdeckten Taten erwächst, und weil wir dafür sorgen wollen, dass das Parlament die Kraft und die Möglichkeit hat, den Verfassungsschutz genau so zu kontrollieren, dass es nicht zu Fällen kommt, wie sie in der letzten Woche öffentlich gemacht wurden.
(Beifall von den GRÜNEN und von der SPD)
Diese beiden Fälle müssen jetzt konkret aufgearbeitet werden. Wir haben gesehen, dass ein V-Mann in der Szene aufsteigt. Und wenn ein V-Mann in der Szene aufsteigt, dann muss er ab einer bestimmten Höhe abgeschaltet werden. Das ist der Grundsatz der Staatsferne. Ich habe schon letzten Donnerstag im Innenausschuss versucht, Ihnen das zu erklären. Sie wissen vielleicht, dass das erste NPD-Verbotsverfahren genau an dieser fehlenden Staatsferne gescheitert ist.
(Beifall von den GRÜNEN und von der SPD)
Es ist also notwendig, diesen Grundsatz beizubehalten und nicht darüber zu jammern, dass wir Informationen eben nicht aus den Führungsgremien bekommen. Solche V-Leute können nicht in einer entsprechenden Höhe in der Hierarchie geduldet werden.
Wer aussteigen will, der muss in ein Aussteigerprogramm. Wer nicht aussteigen will, der muss nicht in ein Aussteigerprogramm. Diejenigen, die Informationen beschaffen, müssen das nach klaren Regeln tun. – Auch da haben wir eine Baustelle vor uns, weil wir auch da sehen: Es sind zwar sinnvolle Veränderungen bei den Aussteigerprogrammen geplant, aber wir müssen jederzeit die klare Trennung zwischen Aussteigerprogramm und Informationsgewinnung einhalten. Wir müssen jetzt also auch debattieren, wie es da weitergeht.
Schließlich der Fall Carsten S. Auch der muss aufgearbeitet werden. Dazu haben wir hier schon vieles gehört. Eines ist völlig klar: Wer aus der rechten Szene aussteigt, der hat einen Anspruch darauf, danach ein neues Leben beginnen zu können. Aber wir brauchen auch eine Kontrolle darüber, dass dieser Ausstieg tatsächlich passiert. Und wir brauchen schlagkräftige Behörden, die darüber wachen.
All diese Erkenntnisse, finde ich, sind ein guter Grund, darüber nachzudenken, wie wir Transparenz erhöhen, wie wir parlamentarische Kontrolle verbessern und wie wir das Verfassungsschutzgesetz modernisieren und neu aufstellen.
Wir müssen anhand dieser Fälle durchdeklinieren: Was heißt Transparenz? Wie schaffen wir parlamentarische Kontrolle? Wie sorgen wir dafür, dass das Parlamentarische Kontrollgremium den hohen Legitimationsanforderungen der Abgeordneten, die darin sitzen, gerecht wird? Wie schaffen wir es, mehr Öffentlichkeit herbeizuführen? Wie schaffen wir es, das Gremium schlagkräftiger zu machen? Wie schaffen wir es, die Abgeordneten besser zu unterstützen, die im PKG vertreten sind?
Ich wünsche mir wirklich inständig, dass wir in diesen Prozess mit allen Fraktionen einsteigen, diesen Prozess gemeinsam gestalten, und zwar ohne ideologische oder parteitaktische Scheuklappen. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den GRÜNEN und von der SPD)