“Kinder und Jugendliche müssen in dieser Krise absolute Priorität haben”

Zur Unterrichtung der Landesregierung zu den Ergebnisse der Länderchef*innen mit der Bundeskanzlerin am 11.02.21

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir heute Morgen auf dem Weg zur Kita oder in die Notbetreuung der Schule fröhliche verkleidete Kinder – ich habe einen kleinen Tiger gesehen; mein Sohn ist als Frosch verkleidet, meine Tochter als Fee – gesehen haben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Krise für Kinder und Jugendliche extrem belastend ist.

Die gestern vorgestellte Studie des Universitätsklinikums Hamburg zur psychischen Gesund­heit von Kindern in der Pandemie ist absolut alarmierend. Vier von fünf Kindern empfinden die Pandemie subjektiv als äußerst belastend. Sieben von zehn Kindern geben eine gemin­derte Lebensqualität an. Drei von zehn Kindern leiden unter psychischen Auffälligkeiten.

Ich bin deshalb wirklich erleichtert, dass wir inzwischen politischen Konsens darüber haben, dass Kinder und Jugendliche in dieser Krise absolute Priorität haben müssen – übrigens an­ders als noch im Frühjahr, als in Nordrhein-Westfalen die Möbelhäuser noch vor den Spiel­plätzen geöffnet wurden.

Wenn die Inzidenzwerte jetzt Lockerungen zulassen, ist meines Erachtens völlig klar, dass das zugunsten von Kindern und Jugendlichen stattfinden muss – oder, anders ausgedrückt, dass wir Erwachsene uns noch länger gedulden müssen. Das sind wir den Kleinsten und den Kleinen in unserer Gesellschaft schuldig, finde ich.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Dass für die Schulen keine bundesweit einheitlichen Regelungen gefunden wurden, kann man bedauern. Aber klar ist auch, dass Schule in unserem föderalen System nun einmal in der Hoheit der Länder liegt.

Klar ist aber auch, dass mit diesem MPK-Beschluss die Verantwortung dafür, dass Infektions­schutz und Bildungsgerechtigkeit wirklich in Einklang gebracht werden, eindeutig bei der Schulministerin liegt. Hinter den Beschlüssen der MPK oder der KMK kann sich diese Lan­desregierung in Sachen „Schulen und Kitas“ nicht mehr verstecken.

(Beifall von den GRÜNEN)

Den Schritt, jetzt zuerst die Grundschulen in Wechselmodelle zu schicken, finden wir Grüne ausdrücklich richtig. Die Kinder haben ihre Schulen seit inzwischen zwei Monaten nicht mehr betreten. Bildungsexpertinnen und -experten weisen uns zu Recht darauf hin, dass dieser Zustand Bildungsungerechtigkeiten produziert, die nur ganz schwer wieder aufzuholen sind.

Wenn wir über Wechselmodelle sprechen, ist die Planungssicherheit für die Schulen und auch für die Schulträger das Gebot der Stunde. Das sind auch die Rückmeldungen, die wir aus den Kommunen bekommen. Denn natürlich sind Wechselmodelle aufwendig. Da geht es auch um Räume und mehr Personal.

Deshalb können wir nicht mit Wechselmodellen für vielleicht zwei oder drei Wochen planen. Vielmehr muss es da um längere Zeiträume gehen – aus unserer Sicht um mindestens bis Ostern angelegte Wechselmodelle für die Grundschulen, für kleine und feste Lerngruppen, für versetzten Unterricht, für zusätzliche Räume und für zusätzliche Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter.

Das können neben den Lehramtsstudierenden zum Beispiel auch die Nachhilfeinstitute sein, die sich in einem offenen Brief an die Politik gewandt haben. In der Tat brauchen wir eine Bildungsoffensive, in der jetzt alle Kräfte zusammengebunden werden müssen.

Frau Gebauer, nutzen Sie doch diese Ressourcen, damit die Wechselmodelle zu einem ech­ten Erfolgsmodell im Sinne der Kinder und auch der Lehrerinnen und Lehrer in dieser Krise werden.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

In dem nächsten Schritt stehen dann die weiterführenden Schulen an. Aus unserer Sicht kann auch bei den weiterführenden Schulen der nächste Schritt nur sein, in den Wechselunterricht zu gehen. Regulärer Präsenzunterricht mit vollen Klassen ist für uns in dieser Infektionslage nicht vorstellbar.

(Beifall von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE] und Monika Düker [GRÜNE])

Ich befürchte ein Stück weit, dass die Schulministerin keine verlässlichen Pläne für die weite­ren Schulen aus der Schublade ziehen kann, die darüber hinausgehen, nur die Abschluss­jahrgänge wieder in die Schulen zu schicken. Es ist sehr bedauerlich, dass es diese Pläne nicht gibt. Aber vielleicht überraschen Sie uns ja gleich noch.

Wir haben in den letzten Monaten ganz viele Zeiten und Ferien der verpassten Chancen er­lebt. Das betrifft nicht nur das versenkte Ferienprogramm. Es wäre ausreichend Zeit gewesen, die Vorbereitungen zu treffen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Frau Gebauer, Herr Kutschaty hat schon angekündigt, dass Sie heute um 16 Uhr eine Pres­sekonferenz haben. Wir Grüne erwarten von Ihnen, dass Sie uns gleich hier in dieser Debatte im Parlament über Ihre Pläne unterrichten. Als Abgeordnete, als Parlamentarierin muss ich ganz deutlich sagen: Es kann nicht sein, dass Sie 30 Minuten nach dem Ende des Plenums vor die Presse treten. Sie sind dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig. Deshalb erwarten wir von Ihnen – vielleicht überraschen Sie uns ja gleich; bislang haben Sie in Unter­richtungen noch nicht zu uns gesprochen –, dass Sie hier, heute und jetzt in dieser Diskussion gleich Klarheit über die geplanten Schritte zur Öffnung der Schulen schaffen.

(Beifall von den GRÜNEN, Thomas Kutschaty [SPD] und Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD] – Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

– Haben Sie schon gemacht, Herr Laschet? Wenn das die Pläne für die Schulen sind, dann gute Nacht für die Schulen!

(Beifall von den GRÜNEN)

Das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst. – Ich hoffe, dass die Schulministerin hier gleich ihre Pläne verkündet und das nicht nur gegenüber der Presse macht, sondern sie hier auch zur Debatte stellt.

(Sarah Philipp [SPD]: Das wäre ja mal was!)

Herr Laschet, weil Sie mich aber schon angesprochen haben, können Sie mir vielleicht direkt einen Widerspruch in Bezug auf die Inzidenzwerte erklären. Denn dabei handelt es sich nicht nur um einen Widerspruch, sondern dort gibt auch einen Erklärungsbedarf gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern.

Bislang haben wir immer einen Inzidenzwert von 50 forciert. Jetzt gehen wir beim Einzelhan­del auf einen Wert von 35. Ich finde das sogar schlüssig; dazu komme ich gleich noch. Gleich­zeitig sagte aber Frau Gebauer gestern in der Pressekonferenz, dass der nächste Schritt bei den weiterführenden Schulen bei einem Inzidenzwert von 50 erfolgt. Was denn jetzt?

Meines Erachtens brauchen wir in der Kommunikation einen klaren Wert – 35 oder 50. Ich finde es sogar richtig, auf die 35 zu gehen, weil wir von der Mutation ausgehen müssen. Wir wissen, dass sich die Mutationen weiterverbreiten. Es ist ja nicht nur eine. Sie haben vorhin immer von der einen Mutation gesprochen. Aber wir haben derzeit mehrere Mutationen, von denen wir wissen, dass sie sich ausbreiten.

Deshalb halte ich den Wert von 35 für die Öffnung des Einzelhandels sogar für nachvollzieh­bar, weil wir alles daransetzen müssen, eine dritte Welle zu verhindern.

Die Politik ist aber gefordert, das klar zu kommunizieren und klar zu erklären, damit keine Missverständnisse entstehen und man im Übrigen auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht verspielt.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Noch kurz zu den Mutationen: Wir müssen inzwischen mehrere Kurven und R-Werte im Blick behalten. Es geht nicht mehr nur um das Virus von 2020, sondern auch um die Mutationen. Wir wissen, dass der R-Wert des Virus von 2020 stark gesunken ist. Wir wissen aber auch, dass sich die Mutationen gerade in einem exponentiellen Wachstum befinden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir mehr Sequenzierungen vornehmen.

Baden-Württemberg – das haben uns die Kolleginnen und Kollegen von dort bestätigt – macht es uns vor. In Baden-Württemberg hat man ein Netzwerk aus Universitätskliniken und priva­ten Laboren gesponnen. Dort gibt es ein landesweites Netz. Jeder positive Coronatest wird inzwischen sequenziert. Nicht nur auf die bekannten Mutationen, sondern auch auf mögliche neue Mutationen wird in Baden-Württemberg untersucht. Das finde ich absolut richtig.

Herr Laumann, wir erwarten auch für Nordrhein-Westfalen, dass jeder positive Test sequen-ziert wird, damit wir ein realistisches Bild über die Ausbreitung der Mutationen bekommen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Zurück zum Thema „Inzidenzwert“: Ich finde es ein Stück weit befremdlich, auch angesichts der Mutationen, angesichts des MPK-Beschlusses von gestern, wenn ich auf Twitter sehe – normalerweise bereitet ja Herr Löttgen seine Plenarreden mit der Sichtung von Tweets vor; heute mache ich das mal –, Herr Pinkwart, dass ausgerechnet ein Minister dieser Koalition Tweets likt, in denen der Inzidenzwert von 35 infrage gestellt wird.

Selbstverständlich darf man in einer Demokratie darüber diskutieren, welche Inzidenzwerte man bei einem Öffnungsschritt für den Einzelhandel anlegen sollte. Aber für mich ist das wie­der einmal ein Beleg dafür, dass es in dieser Koalition kein abgestimmtes Konzept gibt, keine Linie für den Umgang mit der Pandemie, keine einheitliche Kommunikation. Das finde ich fatal. Das ist das Gegenteil von Vertrauen-Schaffen. Sie brauchen endlich eine abgestimmte Kommunikation, um auch die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirt­schaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

– Herr Pinkwart, Sie können gerne gleich noch etwas dazu sagen. Die Plenardebatte ist ja auch dafür gedacht, dass wir ins Gespräch kommen und diskutieren.

Zum Thema „Wirtschaftshilfen“: Der erste Öffnungsschritt für den Einzelhandel, für die Mu­seen, für die Galerien ist immerhin ein kleiner Lichtblick. Aber das reicht nicht aus. Von Luft und von Lichtblicken allein kann kein Solo-Selbstständiger, kein Kulturschaffender leben. Dass die Überbrückungshilfe III erst seit gestern beantragt werden kann, dass ein Großteil des Geldes der November- und Dezemberhilfen immer noch nicht angekommen ist, ist ein absolutes Armutszeugnis für die Bundesregierung. Das Geld muss jetzt kommen. Es muss dringend kommen. Es muss zügig kommen. Es muss auskömmlich sein. Es muss auch un­bürokratisch erfolgen.

(Beifall von den GRÜNEN)

An einem Punkt, Herr Laschet, muss ich Ihnen widersprechen. Das betrifft die Stufenpläne. Ich bleibe dabei, Herr Laschet, dass Stufenpläne wichtig wären, um Verlässlichkeit und Plan-barkeit zu schaffen. Uns reicht das Auf-Sicht-Fahren nicht. Denn wer auf Sicht fährt, der sto­chert im Nebel. Das können wir hier nicht gebrauchen.

Die MPK hat sogar gesagt, dass man eine Öffnungsstrategie erarbeiten will. Aber eine Öff­nungsstrategie ist doch viel zu wenig und aus meiner Sicht auch der falsche Ansatz.

Ein Stufenplan hingegen, in dem es nicht nur um Öffnungen geht, sondern in dem es auch darum geht, klar festzulegen, ab welchem Inzidenzwert – man müsste eigentlich noch weitere Parameter hinzunehmen – wo gelockert werden kann, und in dem gleichzeitig dargelegt wird, dass Dinge wieder zurückgenommen werden müssen und wo es erneut Verschärfungen ge­ben muss, wenn die Zahlen steigen, bietet Planbarkeit und Verlässlichkeit. Dass das bevöl­kerungsreichste Bundesland mit einem Ministerpräsidenten an der Spitze, der auch Bundes­vorsitzender der CDU ist, es nicht schafft, einen eigenen Plan vorzulegen, ist wirklich eine verpasste Chance. Das finde ich sehr schade.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Laschet, wenn Sie Ihre Rolle als CDU-Bundesvorsitzender als moderierend begreifen, dann hat sich das Parlament da gar nicht einzumischen. Aber von Ihnen als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen erwarten wir, dass Sie eine gestaltende Rolle in dieser Krise über­nehmen. Dazu gehört die Ausarbeitung von konkreten Plänen, die Verlässlichkeit, Planbarkeit und auch Vertrauen in politische Maßnahmen schaffen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Josef Hovenjürgen [CDU]: Das Virus ist nicht planbar, Frau Schäffer!)