“Wenn das eine Notbremsung sein soll, dann möchte ich nicht in dem Zug sitzen, wenn Herr Laschet der Lokführer ist”

Zur Unterrichtung der Landesregierung zum Treffen der Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin am 22. März 2021

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Kommunikation ist in einer Krise eines der stärksten Instrumente, um das Vertrauen der Menschen in staatliches Handeln zu gewinnen.

Wer allerdings in der Ministerpräsidentenkonferenz am 10. Februar eine Fortsetzung des Lockdowns beschließt, um diesen in einer 180-Grad-Wende in der MPK am 3. März aufzuheben und Öffnungsschritte zu verkünden, um dann wiederum am 22. März einen noch härteren Lockdown über Ostern zu vereinbaren, der hat aus meiner Sicht zu Recht ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Dass es in einer Pandemie immer wieder zu einer Neubewertung der Situation kommen muss, dass man dazulernt, dass man Strategien verändert und anpasst, dass man manchmal auch einen Widerspruch aushalten muss, ich glaube, das ist uns allen völlig klar. Aber das, was wir in den letzten drei Wochen erlebt haben – auch hier in Nordrhein-Westfalen –, hat aus meiner Sicht mit einem ganz normalen Lernprozess nur noch sehr wenig und eigentlich gar nichts mehr zu tun.

Wir haben vor drei Wochen eine MPK erlebt, die allein auf Öffnungen gesetzt hat und die Gefahr durch mutierte Viren trotz Warnungen aus der Wissenschaft völlig außer Acht gelassen hat. In eine dritte Welle hinein zu öffnen, ohne dass die Voraussetzungen aus Schnelltestes, aus Tempo beim Impfen und einer besseren Kontaktnachverfolgung vorlagen, das war aus meiner Sicht ein schwerer Fehler.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Löttgen, nicht wir haben falsche Hoffnungen geweckt, sondern das waren diejenigen, die geöffnet haben, ohne dass die Voraussetzungen dafür vorgelegen haben. Genau das hat doch zu dem jetzigen Glaubwürdigkeitsproblem geführt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dann hilft es noch weniger, wenn selbst die Schutzmaßnahmen, die in einem MPK-Beschluss gefasst werden, von Herrn Laschet und von der Landesregierung nicht umgesetzt werden.

Was haben wir für ein Theater um die Notbremse in der letzten Woche erlebt, einer Notbremse, die bei einem Überschreiten des Inzidenzwertes von 100 in den Städten und Kreisen Nordrhein-Westfalens überhaupt nicht zur Anwendung gebracht wurde. Ich finde es absolut fahrlässig, dass diese Landesregierung lieber so lange abgewartet hat, bis die Inzidenz im gesamten Land anstieg und landesweit die Marke 100 geknackt wurde. Es war vor Tagen absehbar, dass wir landesweit über 100 kommen würden.

Nach Herrn Laschets Aussage sollte die Notbremse dann ziehen, wenn der Landesdurchschnitt drei Tage lang über 100 liegt. Das ist jetzt der Fall. Aber wo bleibt die Notbremsung? – Die kommt dann erst am Montag. Wenn das eine Notbremsung sein soll, dann möchte ich nicht in dem Zug sitzen, wenn Herr Laschet der Lokführer ist.

(Beifall von den GRÜNEN)

Bedeutend ist ja nicht nur, was in einem Beschluss steht, sondern auch das, was nicht darin steht.

Fangen wir bei der Arbeitswelt an: Wir erleben beim Testen in Betrieben genau das, was wir bereits vorher beim Thema „Homeoffice“ erlebt haben. Selbstverpflichtungen und Appelle sind nicht ausreichend. Wer seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nichts ins Homeoffice schickt oder nicht schicken kann, der muss seiner Fürsorgepflicht als Arbeitgeber mit regelmäßigen Tests nachkommen. Man liest in der Zeitung, dass Herr Laschet ein verpflichtendes Testangebot der Arbeitgeber abgelehnt hat. Ich halte das für einen schweren Fehler.

Zu Ostern soll es jetzt weitere Ruhetage geben. Einmal mehr hat die MPK nicht erläutert, was eine solche Regelung konkret heißen soll. Offenbar gibt es genau deshalb Gespräche und nicht wegen der atmosphärischen Verstimmungen, wie Herr Laschet uns gerade gesagt hat. Das ist wegen der Nachverhandlungen der Fall, weil man jetzt klären muss: Was heißt das denn konkret? – Ich finde, es gehört zu einer verlässlichen Kommunikation, dass man auch erläutert, wie solche Regelungen umgesetzt werden sollen.

Herr Löttgen, ich habe es so verstanden, dass diese Ruhetage, dass dieser Oster-Lockdown eigentlich der Kern des Beschlusses der MPK ist. Jetzt war ich schon ein bisschen erstaunt, dass sich die CDU-Landtagsfraktion davon offenbar komplett distanziert. Vielleicht klären Sie das noch mal mit Ihrem Ministerpräsidenten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Interessant ist auch immer, was in den Vorentwürfen steht, die dann kursieren, die von uns allen gelesen und bewertet werden. Man muss sich nur die Vorentwürfe und dann den tatsächlichen Beschluss ansehen.

Bei diesem MPK-Beschluss fällt auf, dass in dem Vorentwurf eine Regelung stand, nach der Schul- und Kita-Kinder zweimal pro Woche getestet werden müssen, also dass es zweimal pro Woche ein Angebot gibt, und dass, wenn das nicht gewährleistet ist, Schulen und Kitas ab einer lokalen Inzidenz von über 100 geschlossen werden müssen.

Wahrscheinlich werden viele Eltern in Nordrhein-Westfalen gesagt haben: Puh, noch mal Glück gehabt, dass das nicht in den tatsächlichen Beschluss hineingekommen ist. – Dann wären nämlich inzwischen die Kitas und Schulen in 30 Städten und Kreisen in Nordrhein-Westfalen geschlossen, weil wir es nicht hinbekommen, weil wir die Tests nicht haben.

Das Grundanliegen ist ja eigentlich richtig. Wir müssen Kinder und Jugendliche testen, damit sie das Virus nicht in Schulen und Kitas weitertragen. Das ist ein wichtiger Schutzfaktor, um die für Kinder und Jugendliche so wichtigen Institutionen und Räume offenzuhalten und ihnen ein Stück Normalität zu ermöglichen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aber wie ist der Stand in Nordrhein-Westfalen? Ich finde, dass Familienminister Stamp jetzt in der Pflicht ist, eine abgestimmte Teststrategie für Kitas – nicht nur für die Erzieherinnen und Erzieher, sondern auch für die Kita-Kinder – vorzulegen; denn es geht schlicht darum, Kinder vor einer Infektion zu schützen.

Derzeit weigert sich die Landesregierung, genau das zu tun. Ich finde das völlig unverständlich. Es gibt inzwischen Testmethoden, die durchaus auch für Kinder in Ordnung sind. Das sind die sogenannten Lolli-Tests. Solingen macht das. Solingen geht voran und führt diese Tests in der Kommune durch. Aber Solingen bekommt dafür kein Geld von der Landesregierung. Solingen wird dafür bestraft, dass sie diesen Weg gehen, und muss selbst zahlen. Ich finde, das geht nicht. So kann man nicht mit den Kommunen umgehen.

(Beifall von den GRÜNEN – Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Wer bestellt, muss zahlen!)

In den Schulen gibt es nicht zwei Tests pro Woche, sondern es gibt nur einen Test in zwei Wochen, vorausgesetzt – und da habe ich eigentlich hohes Vertrauen – die Polizei kommt mit der Auslieferung der Tests schnell genug hinterher.

Herr Reul, ich bin übrigens sehr gespannt und freue mich schon auf die Innenausschusssitzung, wie Ihre rechtliche Argumentation dafür ist, dass die Polizei jetzt als Logistikunternehmen eingespannt wurde.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Stimmt gar nicht!)

– Das ist Ihnen egal?

(Herbert Reul, Minister des Innern: Ende der Durchsage!)

Es ist gut, dass Sie helfen. Vielleicht wäre man mal auf den Katastrophenschutz zugegangen. Aber ich sage Ihnen eines: Ich glaube, es gibt sogar eine Begründung.

(Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung: Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie Tests oder nicht? – Zuruf von Herbert Reul, Minister des Innern)

– Jetzt hören Sie mir mal zu.

(Weitere Zurufe von Herbert Reul, Minister des Innern)

– Herr Reul, jetzt hören Sie mir zu! Ich habe das Wort, und ich sage Ihnen eines …

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Weitere Zurufe von Herbert Reul, Minister des Innern – Zurufe von SPD und Grünen – Unruhe)

Ich sage Ihnen eines, Herr Reul: Wahrscheinlich haben Sie sogar eine rechtliche Grundlage und eine rechtliche Argumentation. Die rechtliche Grundlage ist das Polizeigesetz, das ist doch die Gefahrenabwehr.

(Fortgesetzt Zurufe von den GRÜNEN und der SPD)

Wenn man der Schulministerin diese Aufgabe wegnimmt und die Polizei sie erledigt, ist das aus meiner Sicht Teil der Gefahrenabwehr.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Herbert Reul, Minister des Innern: Das stimmt doch gar nicht!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Minister Reul, die Abgeordnete Schäffer hat das Wort.

Verena Schäffer (GRÜNE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Reul, vielleicht hören Sie auf die Frau Präsidentin. – Vielen Dank dafür.

(Zuruf von der SPD)

Gestern kam eine Dringlichkeitsvorlage für den Haushalts- und Finanzausschuss, der übermorgen tagen wird, zur Finanzierung von Tests an Schulen. Zwei Coronatests pro Woche nach den Osterferien – das ist gut. Aber die Begründung in der HFA-Vorlage lautet, dass der MPK-Beschluss jetzt zwei Tests pro Schülerin nötig machen würde. Da muss ich Ihnen ganz klar widersprechen: Nicht der MPK-Beschluss macht diese zwei Tests pro Woche notwendig, sondern der Infektionsschutz. Sie hätten viel eher liefern müssen und nicht erst nach der MPK.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Reul, vielleicht können Sie die Diskussion mit der Frau Präsidentin danach fortführen, dafür würde ich Ihnen sehr danken.

Im MPK-Beschluss wird nochmals die Bedeutung des Impfens betont. Wörtlich heißt es dort: „Mit der zunehmenden Durchimpfung der Bevölkerung wird die Pandemie ihren Schrecken verlieren …“ Ich kann dieser Aussage nur zustimmen, aber von einer Durchimpfung der Bevölkerung sind wir meilenweit entfernt. Nordrhein-Westfalen ist Schlusslicht bei den Impfungen.

Anstatt beleidigt zu reagieren – Herr Laschet ist nicht mehr da, aber Herr Löttgen hat genauso reagiert –, könnten Sie uns erklären, was mit den Impfdosen ist. Ja, wir haben Ihnen gestern einen Brief dazu geschrieben. Wir haben Sie darum gebeten, hier im Parlament bei der Unterrichtung genau dafür eine Erklärung abzugeben und uns zu erläutern, wo das Problem ist. Ich weiß nicht, warum Sie darauf so genervt reagieren. Es ist doch kein Problem, dem Parlament genau das zu erklären, oder?

(Beifall von den GRÜNEN)

Eigentlich sollte es das nicht sein, zumal es inzwischen die klare Empfehlung gibt – und das ist mir wichtig –, keine Impfdosen für die Zweitimpfungen mehr zurückzuhalten, weil neuer Impfstoff nachkommt. Wir wissen, dass die erste Impfung bereits einen gewissen Schutz vor einem schweren Verlauf der Erkrankung bietet. Deshalb müssen die Impfdosen jetzt verimpft und die Impfkapazitäten jetzt ausgebaut werden, damit demnächst, wenn die Lieferungen kommen, alles verimpft werden kann. Wir brauchen mehr Tempo beim Impfen – da sind wir uns wohl einig.

Bei Koalitionsverhandlungen bzw. Tarifverhandlungen gibt es den Grundsatz, dass derjenige, der die stärksten Nerven und das meiste Sitzfleisch hat, der mit wenig Schlaf am längsten durchhält, erfolgreich verhandeln kann. Das ist das Bild, das man von Koalitions- und Tarifverhandlungen hat. Das Problem ist nur – und das scheint diese MPK noch nicht ganz verstanden zu haben –, dass man mit diesem Virus nicht verhandeln kann. Nach zwölf Monaten Pandemie braucht es einen Plan, es braucht endlich eine Strategie. Die Politik hat die Verantwortung, Perspektiven aufzuzeigen. Ich denke, nach einem Jahr der Pandemie wird es endlich Zeit. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)