“Ihre Brücke, die Sie da zeichnen, so marode, dass es unverantwortlich ist, sie zu betreten”

Zur Unterrichtung der Landesregierung zur Corona-„Notbremse“

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 192, 190, 186, 178 sind die Inzidenzwerte der letzten Tage für Nordrhein-Westfalen. Damit liegen wir deutlich über dem Bundestrend. Bei dem, was uns vor wenigen Monaten an Inzidenzwerten, an Zahlen noch alarmiert und was zum Dezember-Lockdown geführt hat, ist heute ein Gewöhnungseffekt eingetreten, und ich halte das für einen ziemlich gefährlichen Gewöhnungseffekt.

Herr Laschet, offenbar ist Ihr Brücken-Lockdown inzwischen zu einer absoluten Hängepartie geworden. Sie setzen einzig und allein darauf, dass uns die Impfungen durch die Krise bringen werden. Das wird so schnell aber nicht gelingen. Deshalb ist Ihre Brücke, die Sie da zeichnen, so marode, dass es unverantwortlich ist, sie zu betreten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich will das gerne anhand von ein paar Zahlen verdeutlichen. Derzeit haben 25 % der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen eine Erstimpfung erhalten. Das Impftempo steigt deutlich an; das stimmt, und das ist auch gut. Allerdings wurden bislang nur 7 % der Bevölkerung ein zweites Mal geimpft. Das ist zu wenig, um die Brücke in den Sommer, in die Normalität zu schlagen.

Denn wann haben die Zweitimpfungen – das ist der Marker, auf den wir schauen müssen – einen Effekt auf die Inzidenzwerte? – Da muss man sagen, dass wir diesen Effekt nur dann haben, wenn wir ungefähr 30 % der Bevölkerung ein zweites Mal geimpft haben. Das Tempo bei den Zweitimpfungen gleicht derzeit aber dem einer Schnecke. Darüber hinaus brauchen wir sogar 60 bis 70 % bei den Zweitimpfungen, um die angestrebte Herdenimmunität zu erreichen.

Wenn Sie, Herr Laschet, sich hier hinstellen und davon sprechen, dass wir uns gerade auf den letzten Metern befinden, will ich Ihnen deshalb auch klar widersprechen. Das ist nicht so. Wir sind weit davon entfernt, uns einzig und allein auf die Impfungen als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung verlassen zu können. Auch solche schicken PR-Sätze wie „NRW-Impftempo wie in den USA“ helfen uns da nicht weiter.

7 % haben eine Zweitimpfung, aber wir brauchen bei den Zweitimpfungen 30 %, um die Inzidenzwerte zu drücken. Außerdem brauchen wir 60 bis 70 %, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Herr Laschet, Sie kennen alle diese Zahlen bzw. Sie müssten sie kennen. Wir haben noch ziemlich viele und lange Monate vor uns, bis alle Erwachsenen in Nordrhein-Westfalen tatsächlich ein Impfangebot für die Zweitimpfung bekommen haben. Streuen Sie den Menschen deshalb bitte keinen Sand in die Augen!

(Beifall von den GRÜNEN)

Im Übrigen – und das ist mir sehr wichtig – reden wir beim derzeitigen Impfangebot nur über die Erwachsenen. Für Kinder und Jugendliche haben wir derzeit kein Impfangebot. Ich meine, dass wir – die Bundesländer, der Bund und die Europäische Union – dringend mehr dafür tun müssen, dass die Entwicklung von Impfstoffen für Kinder vorangetrieben wird. Wir dürfen auch nicht, wenn wir über die Frage der Rückgabe von Grundrechten für Geimpfte sprechen, die Familien mit Kindern nicht aus dem Blick verlieren; denn es darf nicht sein, dass die Familien wieder die Leidtragenden in dieser Pandemie sind.

Wenn wir über Inzidenzwerte und über das Thema „Impfen“ sprechen, müssen wir auch über besonders betroffene Stadtteile und Quartiere sprechen. Es ist keine neue Erkenntnis, dass es einen Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und der Wahrscheinlichkeit, an Corona zu erkranken oder auch daran zu sterben, gibt.

Dass in Stadtteilen, in denen Menschen auf beengtem Raum zusammenleben, in denen Menschen leben, die in Jobs arbeiten, bei denen kein Homeoffice möglich ist, die Infektionszahlen höher ausfallen, das wissen wir.

Deshalb müssen wir da jetzt auch einmal konkret werden. Was heißt das denn, wenn wir in diese Stadtteile reingehen müssen und diese Stadtteile stärker berücksichtigen wollen? Ich meine, dass wir zum Beispiel aufsuchende Angebote in diesen Quartieren brauchen. Wir brauchen Angebote, die dabei unterstützen, Impftermine zu machen, wenn wir jetzt gerade über die priorisierten Gruppen sprechen. Aber spätestens wenn die Priorisierung aufgehoben ist, dann müssen wir mit mobilen Impfteams genau in diese Quartiere gehen. Das sind dann nicht die Impfzentren, Herr Laschet, das sind die mobilen Impfteams, die wir in diese Quartiere reinschicken müssen, die den Impfstoff proaktiv zu den Menschen bringen müssen.

(Zuruf von Ministerpräsident Armin Laschet)

Nach über einem Jahr der Pandemie finde ich es, ehrlich gesagt, auch ein Armutszeugnis, dass wir bei der mehrsprachigen Aufklärung immer noch nicht weiter sind,

(Ministerpräsident Armin Laschet: Sind wir doch!)

dass wir keine mehrsprachigen Hotlines und Websites haben, um die Termine zu vereinbaren. Das muss sich dringend ändern. Hier müssen Missstände behoben werden, und zwar so schnell wie möglich. Und das geht über die Quartiersarbeit. Wir müssen jetzt die Strukturen dafür schaffen, damit wir dann den Impfstoff schnell in die Fläche bringen können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Strukturen schaffen müssen wir auch für den Zeitpunkt, wenn wir bald wesentlich mehr Impfstoff zur Verfügung haben. Vorausschauend agieren ist hier das Stichwort, nicht im Nebel stochern, sondern endlich mal vorausschauend agieren. Und das bedeutet, dass wir die Betriebsärzte einbinden müssen neben den Hausärzten, neben den Impfzentren, weil es nicht passieren darf, dass wir demnächst einen Impfstoff haben, aber niemanden, der ihn verimpft, weil die Strukturen nicht vorhanden sind.

Trotz aller Anstrengungen werden wir noch Monate brauchen, bis ein relevanter Anteil der Bevölkerung eine Zweitimpfung erhalten hat. Das habe ich gerade noch einmal an den Zahlen deutlich gemacht. Und weil die Zweitimpfung noch so weit weg ist, würde ich von Ihnen, Herr Laschet, schon gerne wissen, wie Ihre Strategie bis dahin aussieht. Denn wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir noch bis in den Sommer hinein sehr hohe Inzidenzwerte in Nordrhein-Westfalen haben.

Es sind ja nicht nur Zahlen, die wir jeden Morgen aufs Smartphone gespielt bekommen, sondern es sind Menschen, die auf den Intensivstationen liegen, die um ihr Leben ringen. Es sind Menschen, die schwer erkranken, die Langzeitfolgen haben. Es sind auch die Menschen, die in den Kliniken arbeiten, das Personal, das inzwischen wirklich am Ende seiner Kräfte ist.

Ich halte es nicht für hinnehmbar und halte es auch nicht für verantwortbar, dass es immer noch keine Strategie gibt, sondern dass hier einzig und allein auf das Thema Impfung gesetzt wird. Ich finde, das geht so nicht weiter.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Laschet, ich habe Ihnen eben sehr genau zugehört in Ihrer Rede. Mich beschleicht immer mehr das Gefühl – es ist ein sehr ungutes Gefühl –, dass Sie noch nicht einmal mehr ein Ziel haben. Sie sagen nur noch: Impfen, impfen, impfen! Aber das reicht nicht aus. Sie haben noch nicht einmal ein Ziel, zu welchem Inzidenzwert wir denn kommen müssen, um die Krise beherrschen zu können und ein Volllaufen der Intensivstationen zu verhindern. Ihr einziges Ziel ist es doch, sich irgendwie bis zur Bundestagswahl durch diese Pandemie zu wursteln.

(Ministerpräsident Armin Laschet: Mein Gott!)

Aber Sie haben kein Ziel in der Pandemiebekämpfung. – Ja, Herr Laschet, Sie sagen hier: Mein Gott! – Aber was ist denn dann das Ziel? Wir haben gerade eine Situation, dass wir uns bundesweit bei einer Inzidenz von 160 einpendeln. In Nordrhein-Westfalen liegen wir noch mal 20 Punkte darüber. Und es gibt in diesem Land derzeit keine Strategie,

(Henning Rehbaum [CDU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

außer dem Thema Impfen, wie wir die Inzidenzwerte runterkriegen. Ich halte das für fahrlässig.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dann, Herr Laschet, Sie haben gesagt: Nicht so viel reden, sondern handeln! – Ja, dann handeln Sie! Sie sagen, Sie würden handeln. Aber das stimmt nicht. Herr Laschet redet, er handelt nicht. Ein Ministerpräsident Armin Laschet kann sich nicht durchsetzen gegen seinen Koalitionspartner und Maßnahmen für den Schutz der Menschen auf den Weg bringen. Das hätte schon längst passieren müssen und können – auch in der Zeit zwischen Ostern und der Verabschiedung des Bundesgesetzes; wir haben die Vorschläge doch gemacht.

(Ministerpräsident Armin Laschet: Was denn?)

– Ich bitte Sie. Sie haben hier nichts gemacht. Sie sind hergegangen und haben gesagt: Wir brauchen einen Brücken-Lockdown,

(Ministerpräsident Armin Laschet: Das war vor der Ministerpräsidentenkonferenz!)

ohne diesen Brücken-Lockdown jemals mit Leben zu füllen.

(Ministerpräsident Armin Laschet: Bundesweit!)

Sie haben gewartet, bis es ein Bundesgesetz gibt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Jetzt ist das Bundesgesetz da, und Sie haben trotzdem immer noch keine Strategie. Es ist doch keine Strategie zu sagen, dass wir auf der einen Seite eine Notbremse haben, die erst bei einer Inzidenz von 100 greift. Was ist das denn, bitte schön, für eine Notbremse? Und dass Sie sagen, die Schulen gehen erst bei 165 in den Distanzunterricht und Click & Meet geht bis 150 – Entschuldigung, das ist doch keine Strategie!

(Ministerpräsident Armin Laschet: Doch!)

Ein Land kann doch strengere Maßnahmen machen, als das Bundesgesetz es vorschreibt. Das alles fehlt hier in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von Henning Rehbaum [CDU])

Deshalb werden wir bei diesen hohen Inzidenzwerten noch lange bleiben. Das wird bedeuten, dass sich viele Menschen weiterhin anstecken werden, dass wir viele Menschen auf den Intensivstationen haben. Ich halte das tatsächlich für ein riesengroßes Problem.

(Zuruf von Henning Rehbaum [CDU])

Ja, die Frage „Was wollen Sie denn dann als Grüne?“ ist berechtigt. Das haben wir aber an vielen Stellen gesagt.

(Christof Rasche [FDP]: Nicht einmal!)

Ich greife mal den Aspekt der Arbeitswelt raus. Es ist gut, dass es jetzt einige Verbesserungen im Bereich der Arbeitswelt gibt. Aber es ist eben nicht genug. Wir muten unseren Kindern zu, dass sie in den Schulen zweimal die Woche getestet werden, wenn die Schulen geöffnet sind, zweimal die Woche. Es ist auch richtig, dass sie getestet werden. Aber es ist kein Testangebot, es ist eine Pflicht, die Kinder müssen getestet werden.

Wir Erwachsenen sagen jedoch: Wir gehen munter weiter arbeiten. Die Büros sind weiterhin voll, und es gibt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer noch keine Testpflicht. Das ist doch eine Schieflage, auch im Sinne der Generationengerechtigkeit, zu sagen: Die Kinder müssen getestet werden, aber wir Erwachsenen entziehen uns dieser Maßnahme. Ich finde, das kann nicht sein in einer Gesellschaft, die auf Solidarität setzt und die darauf setzt, dass Infektionszahlen gesenkt werden. Das ist, finde ich, einer der wichtigen Punkte, die wir hier in Nordrhein-Westfalen angehen müssen – Stichwort „Arbeitswelt“. Das könnte der Ministerpräsident regeln, wenn er denn wollte.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dann möchte ich noch einmal betonen, dass wir hier als Grüne immer wieder gesagt haben: Wir sind bereit, konstruktiv an Strategien, an Ideen, an Maßnahmen mitzuarbeiten. Wir haben in dieser Krise immer gesagt: Wir wollen kritisch sein, wir wollen aber auch konstruktiv sein, wir wollen Vorschläge vorlegen. Das haben wir übrigens gemacht. Sie haben heute einen Antrag von uns auf dem Tisch, in dem wir sehr konkrete Vorschläge machen, wie die Coronaschutzverordnung aus unserer Sicht geändert werden müsste. Das werden wir gleich noch diskutieren. Die Vorschläge liegen Ihnen alle vor.

Diese Unterrichtung enthält im Titel die Worte „gemeinsam“ und „zusammen“. Gemeinsam und zusammen, das klingt gut. Ich finde, das klingt sehr gut. Aber bislang ist daraus wenig gefolgt, denn bislang ist es so, dass die Landesregierung ihre Sachen macht, dass die regierungstragenden Fraktionen uns am Samstag einen Antrag vor die Füße kippen mit pandemischen Leitlinien,

die von einer Öffnungsrhetorik geprägt sind. Wir haben Ihnen unsere Änderungen gestern Abend geschickt. Ich bin gespannt auf die Beratung und werde auch noch einmal darum bitten, dass wir uns wirklich konstruktiv gemeinsam zusammensetzen, eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber führen, wie denn eine Strategie für Nordrhein-Westfalen aussehen kann, dass die Inzidenzwerte sinken, dass wir nicht auf diesem hohen Stand bleiben.

(Zuruf von Henning Rehbaum [CDU])

Klar ist aus meiner Sicht auch, dass wir es nur zusammen schaffen können. Ich meine zu Recht, dass die Menschen in Nordrhein-Westfalen genau das auch von uns erwarten. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)