“Es geht darum, jungen Menschen, die ein Jahr voller Entbehrungen erlebt haben, jetzt Zeit zurückzugeben”

Zur Unterrichtung der Landesregierung zur aktuellen Situation in der Corona-Pandemie

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Lieber Herr Löttgen, ich glaube, da ging gerade ein wenig durcheinander. Ich meine jetzt auch gar nicht Ihre gesamte Rede. Darüber können wir im Einzelnen sprechen, und außerdem will ich heute lieber nach vorne als nach hinten blicken.

Sie haben einige Zitate von Herrn Kutschaty vorgetragen, und da ist tatsächlich ein wenig durcheinandergegangen. Vielleicht können Sie das gleich noch einmal klarstellen. Denn das, was Sie vorgelesen haben, war eine Antwort von Herrn Kutschaty auf die Ausführungen der AfD,

(Thomas Kutschaty [SPD]: Genau!)

die hier immer wieder die Gefahr des Coronavirus geleugnet und verharmlost hat.

Ich bin sehr froh, dass wir Demokratinnen und Demokraten uns bei der grundsätzlichen Ein­schätzung über die Gefahr durch das Coronavirus sehr einig waren, auch wenn wir hier viel­leicht im Detail gestritten und gerungen haben, wie man damit umgeht. Ich würde Sie bitten, das zu klären und klarzustellen, weil das kein Angriff auf die Regierung, sondern auf die AfD war.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren, das absolut tolle und herrliche Sommerwetter, die niedrigen Inzidenzwerte und das angezogene Tempo beim Impfen geben uns allen endlich Freiheiten zurück. Ich gönne es jedem Kind und jedem Erwachsenen sehr, sich mit Freunden zu treffen, im Café zu sitzen, auf den Flohmarkt oder ins Freibad zu gehen.

Die Zeit der Pandemie ist aber noch nicht vorbei, und es ist auch noch nicht die Zeit gekom­men, Bilanz zu ziehen, Herr Laschet. Jetzt ist die Zeit, den Sommer zu nutzen, um Vorsorge zu betreiben und die anstehenden Aufgaben anzugehen, damit die Zahlen im Herbst nicht wieder ansteigen, die Impfkampagne weitergeht und wir die Auffrischungsimpfungen planvoll angehen können. Herr Löttgen, bedauerlicherweise habe ich von Ihnen sehr wenig nach vorne gehört. Wir müssen diesen Sommer nutzen, um Vorsorge zu betreiben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Denn es ist weiterhin Wachsamkeit geboten. Viele Fragen zur Ausbreitung der Deltavariante mit ihrer weitaus höheren Ansteckungsrate sind noch nicht beantwortet. Dazu kommt die Sorge, dass der Schutz der Erstimpfung bei der Deltavariante nicht ausreicht. Es sind also noch viel zu viele Fragen im Hinblick auf diese Virusmutation offen, sodass wir aus meiner Sicht nicht in einen Überbietungswettbewerb über das Ende der Maskenpflicht eintreten dür­fen.

Draußen brauchen wir Masken tatsächlich nur da, wo keine Abstände eingehalten werden können. Drinnen sind Masken hingegen ein effektives, ein einfaches und ein, wenn man sich die Verhältnismäßigkeit in Bezug auf Maßnahmen anschaut, relativ mildes Mittel, um weiter­hin für Schutz zu sorgen. Auch der immer näher rückende Bundestagswahlkampf darf nicht zu einem Wettbewerb führen, wer welche Vorsichtsmaßnahmen am schnellsten über Bord werfen will.

Wenn uns der letzte Sommer eines lehrt, dann das, dass diese Landesregierung diesen Som­mer zur Vorsorge nutzen muss. Sehen wir uns doch einmal an, wie die Situation zum Beispiel an den Schulen ist. Noch ist keine Teststrategie für die Schulen nach den Sommerferien er­kennbar. Die Frage, ob dafür noch ausreichend Tests an den Schulen vorhanden sind, wurde im Haushalts- und Finanzausschuss schlichtweg nicht beantwortet. Wenn man mit der Test­strategie nach den Sommerferien aber fortfahren will, was meiner Auffassung nach notwendig ist, müssten jetzt neue Finanzbeschlüsse auf den Weg gebracht werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

In zweieinhalb Wochen beginnt aber die Sommerpause. Es kann nicht sein, dass die Landes­regierung wieder darauf setzt, auf Sicht zu fahren, und keine Antworten hat. Ich glaube, da haben uns die letzten 16 Monate etwas anderes gelehrt.

Ich will noch einen Blick auf das Thema „Teststrategie“ insgesamt, für die gesamte Bevölke­rung werfen. Wenn sich perspektivisch in den nächsten Wochen immer weniger Menschen testen lassen, weil wir die Tests nicht mehr als Türöffner, als Zugangsvoraussetzung zum Beispiel für das Einkaufen benötigen, werden sich weniger Menschen testen lassen, und dann brauchen wir eine andere Strategie des Monitorings. Das muss man jetzt angehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Da jeder Mensch regelmäßig zur Toilette gehen muss, gibt es eigentlich nichts Näherliegen­des, als Wasserproben in Kläranlagen zu untersuchen. Das klingt jetzt vielleicht erst mal ein bisschen komisch, aber das wird in vielen Städten, in vielen Gemeinden, in vielen europäi­schen Ländern schon praktiziert: in Spanien, in Italien, in den Niederlanden. Die sind alle viel, viel weiter als wir. Wie gesagt, es gibt auch einige deutsche Kommunen, die das tun. Auch die Europäische Union wirbt inzwischen dafür, so ein Abwassermonitoring zu betreiben. Denn das Abwassermonitoring ist den offiziellen Corona-Testergebnissen sogar mehrere Tage vo­raus. Es ist ein Frühwarnsystem, das über die Verbreitung des Virus und der Virusvarianten Aufschluss geben kann.

Ich fände es gut, Herr Laschet, wenn wir solche innovativen Ideen auch hier in Nordrhein-Westfalen nutzen und nicht wieder einmal der pandemischen Lage hinterherhinken würden.

(Beifall von den GRÜNEN und Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD])

Vorsorge müssen wir auch in Bezug auf die Impfungen treffen. Wir müssen doch jetzt schon die Planungen für die Auffrischungsimpfungen angehen, die wahrscheinlich ab dem kommen­den Herbst anstehen. Auch hier gibt es noch viele offene Fragen zu klären: Wie machen wir das? Wie organisieren wir das? Machen wir das über die Impfzentren? Kriegen die Hausärzte das neben den noch parallel laufenden Erst- und vor allem Zweitimpfungen hin? Wie gestalten wir die Terminvergabe für die Auffrischungsimpfungen? In welcher Reihenfolge impfen wir welche Personengruppen? All diese Fragen stehen jetzt an.

Ich war letzte Woche in meinem Wahlkreis an der Uni Witten/Herdecke unterwegs. Dort gibt es eine Impfstelle der Universität. Ich finde, das ist eine der Ideen, die man in den Blick neh­men muss und die sich vielleicht auf andere Städte übertragen lässt.

An der Uni Witten/Herdecke wird der Impfstoff von Wittener Hausärzten verimpft. Die Medi­zinstudierenden helfen tatkräftig mit. Die lernen dabei auch noch einiges. Der niedrigschwellige Zugang, nämlich nicht beim Hausarzt, sondern bei der Impfstelle der Universität, sorgt dafür, dass all diejenigen, die keinen Hausarzt haben, sich dort um einen Impftermin bemühen können. Das ist ein Best-Practice-Beispiel, das man jetzt in die Fläche tragen kann.

Aber das Wichtigste bei den Impfungen bleibt doch, dass wir hier klar und eindeutig kommu­nizieren und dass hier klar und eindeutig informiert wird. Gerade beim Thema „Impfen“ war die Kommunikation des Landes in den letzten Monaten doch mehr von Chaos als von Infor­mation geprägt, und das muss sich dringend ändern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Man kann doch nur von Hohn sprechen, wenn man die Menschen am 7. Juni durch großflä­chige Anzeigen in den Tageszeitungen in Nordrhein-Westfalen dazu auffordert, sich jetzt imp­fen zu lassen. Viele Menschen würden sich ja impfen lassen, wenn Impfstoff für Erstimpfun­gen zur Verfügung stehen würde. Wir wissen doch, dass wir jetzt im Juni vor allem nur Zweitimpfungen machen können. Deshalb finde ich solche leeren Versprechen nicht in Ord­nung.

Auch die Kommunikation der Landesregierung zur Impfung von Jugendlichen halte ich für sehr misslungen. Jetzt ist Herr Löttgen nicht im Raum, aber auch ich möchte noch mal einen Blick in das Plenarprotokoll der letzten Plenarsitzung werfen. Vor vier Wochen hat Minister­präsident Armin Laschet hier im Plenum noch gesagt – Zitat –, „dass der Impfstoff, den wir für die 12-bis 16-Jährigen brauchen, zusätzlich zur Verfügung gestellt wird“. – Davon ist jetzt aber keine Rede mehr.

Die STIKO hat ja eine Risiko-Nutzen-Abwägung vorgenommen. Ich finde es auch sehr nach­vollziehbar, zu sagen, man gibt keine generelle Impfempfehlung ab, sondern nur für Jugend­liche, die einer Risikogruppe angehören. Aber klar ist doch, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene, auch diejenigen in der Altersgruppe 12 bis 16 Jahre, auf individuellen Wunsch und nach ärztlicher Aufklärung sehr wohl impfen lassen dürfen. Ich meine auch, dass wir jungen Menschen zutrauen müssen, dass sie solche Entscheidungen mit ihren Eltern und mit ihren Ärzten treffen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Natürlich – und da gebe ich Ihnen, Herr Laschet, ja durchaus recht – darf es keinen Impfdruck auf Kinder und Jugendliche geben, schon gar nicht, weil man meint, man müsse damit die Herdenimmunität erreichen. Darum kann es nicht gehen. Es darf keinen Impfdruck geben.

Aber derzeit gibt es faktisch für viele Jugendliche, die sich gerne impfen lassen würden, noch nicht einmal Impfstoff. Da lösen Sie, Herr Laschet, ein Versprechen, das Sie hier vor vier Wochen abgegeben haben, gegenüber einer Gruppe nicht ein, bei der wir uns hier eigentlich einig waren, dass sie jetzt die volle Solidarität der Gesellschaft bekommen muss.

(Beifall von den GRÜNEN)

Da hat die Regierung wieder viel angekündigt, und es ist wenig dabei herumgekommen.

Wir haben den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den letzten 16 Monaten ziemlich viel zugemutet. Allzu oft haben wir Kinder und Jugendliche und ihre Bedürfnisse auf die Bildungsinstitutionen, Kitas und Schulen, reduziert. Aber Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene brauchen mehr als nur die formelle Bildung. Das Programm „Extra-Zeit zum Lernen in NRW“ läuft zwar etwas besser als das letzte Ferienprogramm, was aber nach dem Rohrkrepierer des letzten Sommers auch nicht so ganz schwierig ist. Doch dieser Eigen­anteil von 20 % bremst viele Initiativen und kleine Träger aus. Schon jetzt ist klar, dass bei Weitem nicht alle Kinder und alle Familien, die ein Angebot benötigen, eine „Extra-Zeit“ in diesen Ferien haben werden. Es bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier muss nachge­bessert werden. Wir müssen den Familien in diesem Sommer etwas zurückgeben.

(Beifall von den GRÜNEN)

In den letzten 16 Monaten konnten Kindergeburtstage nicht gefeiert werden; Auslandsaufent­halte mussten abgesagt werden. Statt in einem WG-Zimmer in einer fremden Stadt fanden sich nicht wenige Studierende in ihrem ehemaligen Kinderzimmer zu Hause bei ihren Eltern wieder. Abibälle lassen sich nicht nachholen.

Wir sollten die Chance nicht ungenutzt lassen, Jugendlichen und jungen Erwachsenen etwas zurückzugeben und damit auch ihren Beitrag zur Pandemiebekämpfung anzuerkennen. Zum Beispiel können das Gutscheine für Freizeitaktivitäten von Kino bis Sport oder ein kostenloses Interrail-Ticket für junge Erwachsene ab 18 Jahren sein. Ich glaube, da ist viel Kreativität von uns als Politik gefragt. Aber das müssen wir jetzt angehen. Es geht darum, jungen Menschen, die ein Jahr voller Entbehrungen erlebt haben, die eine große Solidarität gegenüber älteren Menschen, gegenüber Risikogruppen, gegenüber der gesamten Gesellschaft gezeigt haben, jetzt Zeit zurückzugeben. Also lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nachdenken: Wie können wir ihnen diese Zeit schenken und damit auch ein deutliches Signal setzen, dass wir sie und ihre Bedürfnisse jetzt in den Mittelpunkt rücken und damit auch sehr ernst nehmen? – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)