“Diesen guten Ruf setzen Sie, Herr Reul, für Ihre Träumereien aufs Spiel”

Zum Antrag der GRÜNEN im Landtag auf eine Aktuelle Stunde zur Demonstration gegen das Versammlungsgesetz

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Grundsatzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985, der sogenannte Brokdorf-Beschluss, nennt die Versammlungsfreiheit ein unentbehrliches Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens. Dieser Beschluss ist bis heute prägend für das Versammlungsrecht. Doch Innenminister Reul wollte noch vor einem Jahr den Brokdorf-Beschluss grundsätzlich auf den Prüfstand stellen.

Ministerpräsident Armin Laschet lobte hier vor zwei Wochen, dass die Polizei sogar ermögliche, dass Menschen für absurde Dinge ihr Demonstrationsrecht in Anspruch nehmen könnten – als wäre das nicht ihr Grundrecht. Der Staat hat nicht zu bewerten, für welche Anliegen Bürgerinnen und Bürger demonstrieren. Ja, manches ist für Demokratinnen und Demokraten schwer erträglich, aber unsere Demokratie hält das aus.

Die Äußerungen von Minister Reul und Ministerpräsident Armin Laschet zeigen vor allem eines: Diese Koalition hat keinerlei Wertschätzung für Versammlungen als einem unabdingbaren Element unserer Demokratie, sondern sie sieht in ihnen immer eine potenzielle Gefahr. Man schützt aber die Demokratie nicht, indem man Grundrechte unverhältnismäßig einschränkt, wie diese Landesregierung es aktuell plant.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Aufarbeitung des Polizeieinsatzes vom vergangenen Samstag ist nicht nur eine Aufklärung der Einzelfragen zum Einsatz. Machen wir uns da nichts vor! Wer es gerade im Innenausschuss erlebt hat, weiß, was ich meine. Es ist im Kern eine Auseinandersetzung über die Ausrichtung der Einsatztaktik unserer Polizei.

(Daniel Sieveke [CDU]: Unglaublich!)

In den 80er-Jahren hat sich in Nordrhein-Westfalen viel verändert. Die Polizeistrategie wurde grundlegend weiterentwickelt. Sogar noch vor dem Brokdorf-Beschluss wurde die NRW-Linie für den Einsatz der bürgernahen Polizei entwickelt, die auch heute noch Gültigkeit hat. Seitdem gelten Deeskalation, Verhältnismäßigkeit der Einsatzmittel, Kommunikation, Kooperation, Differenzierung zwischen friedlichen Versammlungsteilnehmern und -störern als wesentliche Teile der Einsatzstrategie. Für diese NRW-Linie genießt unsere Polizei zu Recht bundesweit einen sehr guten Ruf.

Diesen guten Ruf und vor allem diese erfolgreiche Einsatztaktik setzen Sie, Herr Reul, für Ihre Träumereien von einer robusten, einer repressiv ausgerichteten Polizei aufs Spiel. Ich finde das unverantwortlich.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Weil es hier um eine grundsätzliche Frage des Umgangs mit der Versammlung geht, muss auch die Rolle des Innenministeriums im Vorfeld der Demo am Samstag in den Blick genommen werden.

Ja, Herr Reul, Sie haben eben im Innenausschuss sehr heftig dementiert, dass es Vorgaben gegeben habe. So wie ich Ihre Polizeiabteilung in den letzten vier Jahren erlebt habe, bin ich mir aber sehr sicher, dass bereits im Vorfeld darauf hingewirkt wurde, dass bei dieser Versammlung hart durchgegriffen wird.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist doch eine Unterstellung! Unglaublich!)

Dass Sie gerade im Innenausschuss derart gereizt auf die Frage reagiert haben, ob es eine klare Erwartungshaltung des Innenministeriums an das PP Düsseldorf gab,

(Nadja Lüders [SPD]: Macht er ja immer!)

spricht aus meiner Sicht sehr dafür, dass ich mit meiner Einschätzung richtig liege und es diese Einflussnahme gab.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Unglaublich!)

Das wäre übrigens aus meiner Sicht in Bezug auf die Einsatzstrategie eine klare Missachtung der NRW-Linie.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich will eines ganz klar sagen: Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung und darf es niemals sein.

(Gregor Golland [CDU]: Wie im Hambacher Forst!)

Wenn es zu Gewalt und Straftaten kommt, dann müssen diese selbstverständlich von der Polizei verfolgt werden.

Deeskalation und Kommunikation aber sind wesentliche taktische Einsatzmittel, damit angespannte Situationen gar nicht erst eskalieren – dies im Übrigen auch zum Schutz unser eingesetzten Polizeibeamtinnen und ‑beamten.

Ich halte es rechtlich für mehr als fragwürdig, dass über 300 Menschen, darunter viele Minderjährige – 38, wie wir gerade gehört haben –, über Stunden in einem sogenannten polizeilichen Kessel eingeschlossen waren. Es ist gerade im Innenausschuss nicht wirklich dargelegt worden, was die rechtliche Begründung dafür ist. Hier werden wir weiter nachhaken.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es ist ungeheuerlich, dass ein Journalist, der sich als Journalist zu erkennen gibt, bei einer Demonstration von Polizisten verletzt wird. Wir Grüne haben bei der Beratung des Gesetzentwurfs darauf hingewiesen, dass Art. 5 Grundgesetz, die Pressefreiheit, bei Versammlungen gewährleistet werden muss. Nehmen Sie also die Versammlung zum Anlass, für den Schutz der Pressefreiheit bei Demonstrationen zu sorgen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Nach den Erfahrungen am Samstag ist bei vielen Menschen das Vertrauen in unsere Polizei erschüttert.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Sie fragen sich, ob das der Anfang einer neuen harten Linie ist, um es ganz klar zu sagen.

(Zuruf von Gregor Golland [CDU])

Herr Reul und Herr Löttgen wollen in Bezug auf das Versammlungsgesetz den Ball flach halten.

(Daniel Sieveke [CDU]: Sie halten den Ball nicht mehr flach!)

Sie suggerieren, dass es sich bei dem Gesetzentwurf der Landesregierung allein um eine Überarbeitung des alten Bundesgesetzes handelt. Sie suggerieren, es sei nur eine Überarbeitung mit einer Anpassung an die aktuelle Rechtsprechung. Das ist schlichtweg falsch.

Es ist im Übrigen arrogant, Herr Reul, wenn Sie behaupten, dass diejenigen, die das Gesetz kritisieren, es nicht gelesen hätten. Ich habe es sehr intensiv gelesen. Der Gesetzentwurf geht weit über die Rechtsprechung hinaus. Er ist zum Teil sogar schärfer als das Bayerische Versammlungsgesetz. Es wird Versammlungen in Zukunft einschränken und damit ein wichtiges Grundrecht einschränken. Das halte ich schlichtweg für falsch.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es ist einfach – Entschuldigung – heuchlerisch, dass die FDP-Landtagsfraktion hier im Landtag erst auf Druck aus Berlin die Freiheits- und Bürgerrechte wiederentdeckt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ihre Ministerinnen und Minister haben dem Gesetzentwurf im Kabinett zugestimmt. Sie haben der Verhinderung von Gegendemonstrationen, von vereinfachten Bild- und Tonaufnahmen, erschwerten Bedingungen zur Anmeldung einer Demonstration,

(Marc Lürbke [FDP]: Verhinderung von Gegendemonstrationen? Verhinderung?)

sogar dem Vergleich der heutigen Klimaschutzbewegung mit den Aufmärschen von SA und SS unter den Nationalsozialisten zugestimmt.

Ja, Herr Lürbke, § 7 des Gesetzentwurfs, Störung von Versammlungen, sieht genau das vor: die Verhinderung von Gegendemonstrationen. Bitte schauen Sie in das Gesetz. Das haben Sie offenbar noch immer nicht getan. Dort steht das genauso. Das ist auch mehrfach von Sachverständigen so vorgetragen worden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Lürbke, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die Freiheitsrechte waren Ihnen im Polizeigesetz egal, sie waren Ihnen bis zum Tweet von Frau Strack-Zimmermann am Samstagabend egal, und deshalb nimmt Ihnen Ihre Haltung hier gerade niemand ab.

(Beifall von den GRÜNEN – Zurufe von Henning Höne [FDP]: und Marc Lürbke [FDP])

– Da scheine ich ja einen sehr wunden Punkt getroffen zu haben, Herr Höne und Herr Lürbke.

Der gesamte Duktus des Gesetzentwurfes …

(Marc Lürbke [FDP]: Nein, das ist alles Quatsch!)

– Nein, das ist kein Quatsch. Gucken Sie sich doch die Reden zum Polizeigesetz an, Ihre Äußerungen zum Versammlungsgesetz.

(Zurufe von Henning Höne [FDP] und Josefine Paul [GRÜNE])

Hier nimmt Ihnen schlichtweg niemand ab, dass Sie für Freiheitsrechte einstehen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Der gesamte Duktus des Gesetzentwurfs ist geprägt von Repression, von der Verhinderung von Versammlungen.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Deshalb muss der Gesetzentwurf aus meiner Sicht zurückgezogen werden.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist ja maßlos, Frau Kollegin! Unglaublich!)

Ja, ich gebe Ihnen recht: Wir brauchen ein modernes Versammlungsrecht – das ist so –, aber eines, das Art. 8 des Grundgesetzes, die Versammlungsfreiheit, wirklich schützt und Versammlungen ermöglicht, anstatt sie zu behindern. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Der zweite Redebeitrag zu diesem Tagesordnungspunkt von

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Golland, ich werde in der Tat leidenschaftlich, wenn es um die Grundrechte geht, und im Gegensatz zu Ihnen bedeutet mir der Schutz unserer Grundrechte sehr viel.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zurufe von Bodo Löttgen [CDU] und Ralf Witzel [FDP])

Aber, Herr Golland, ich will hier auch noch einmal ganz deutlich sagen: Sie müssen sich schon mit meiner sachlichen Kritik auseinandersetzen,

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Wenn sie denn sachlich wäre!)

und es ist, glaube ich, gerade sehr erkennbar geworden, dass Sie das nicht tun wollen.

Herr Reul, Sie sagten, Sie würden nicht wollen, dass die Debatte auf dem Rücken der Polizei ausgetragen werde. Diese Auffassung teile ich. Mir ist deshalb wichtig, Folgendes klarstellen – so hatte ich auch die Fragen in der Innenausschusssitzung angelegt, und ich meine, das wäre in meiner Rede deutlich geworden –: Es geht mir nicht darum, einzelne Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in den Fokus zu nehmen und zu sagen, welcher Polizeibeamte wann und wo bei der Demo steht. Darum geht es nicht.

Natürlich gibt es bei dieser Demonstration, bei der ich weiß nicht wie viele Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte eingesetzt waren – wahrscheinlich waren es mehrere Hundert, aber vielleicht auch 1.000 oder sogar mehr –, …

(Bodo Löttgen [CDU]: Wenn Sie mal zugehört hätten! Die Zahl hat er doch genannt!)

– Es tut mir leid, Herr Löttgen, dass ich an dieser Stelle vielleicht einmal nicht zugehört habe. Wenn Sie die Zahl aber gerade wissen, ist das in Ordnung. Darum geht es aber gar nicht. Es geht nicht um die Zahl, sondern es geht darum, dass es bei einer Vielzahl von eingesetzten Beamtinnen und Beamten zu Fehlern kommen kann.

Mir geht es in der Debatte aber darum, und darauf waren auch meine Fragen im Innenausschuss ausgerichtet, welche Einsatzvorgaben gemacht wurden. Mit welcher rechtlichen Begründung wurden welche polizeilichen Maßnahmen eingeleitet? Außerdem geht es um die Bewertung, ob diese Einleitung von polizeilichen Maßnahmen verhältnismäßig war oder nicht. Dabei handelt es sich um juristische Fragen, und da geht es, wie gesagt, nicht um die einzelnen Beamtinnen und Beamten.

Im Übrigen ist es die Aufgabe des Parlaments, diese Fragen hier zu klären, Herr Reul. Sie müssen anerkennen – Entschuldigung –, dass das unsere Aufgabe als Abgeordnete ist und wir uns nicht darauf verlassen, dass der Minister als Teil der Exekutive aufklärt.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es sind noch viele Fragen zu klären, und ich kann hier schon einmal ankündigen, dass wir das weiter anmelden werden.

Dann möchte ich gerne noch einmal zu Herrn Golland und zur NRW-Leitlinie kommen. Herr Golland, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie in der letzten Legislaturperiode eine Kleine Anfrage zum Thema „Was ist die NRW-Linie?“ gestellt haben. Sie haben das nach vier Jahren Mitgliedschaft im Parlament und als Mitglied des Innenausschusses nicht gewusst. Ich finde, dass man das hätte wissen können, aber ich bin Ihnen dankbar, dass wir dafür nun diese Leitlinie vorliegen haben, die sich jeder aus dem Netz ziehen kann.

(Zuruf von Gregor Golland [CDU])

Ich möchte daraus gerne den letzten Absatz zitieren, weil Sie von einer „weichen Welle“ sprachen. Dieser Absatz lautet: Die nordrhein-westfälische Linie ist keine weiche Welle, keine bestimmte Linie, keine falsche Nachgiebigkeit, sondern angemessener, differenzierter Polizeieinsatz. Sie verwirklicht den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit. – Das ist die NRW-Linie, und ich bin froh, dass diese Linie in Nordrhein-Westfalen nach wie vor Bestand hat.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Gregor Golland [CDU]: Das hat man bei der Silvesternacht gesehen!)

Ich möchte auch noch einmal darauf eingehen, dass Sie hier sagten –Herr Katzidis hat das ebenfalls anklingen lassen –, dass nicht genügend gegen Straftaten vorgegangen werde, und den Grundgedanken der NRW-Leitlinie zitieren. Die NRW-Leitlinie spricht zu Beginn von den zwei Grundgedanken – Zitat – „entschiedener und problembewusster Einsatz von konfliktmindernden und gewaltdämpfenden Maßnahmen“ und „konsequentes Einschreiten gegen Gewalt durch angemessen starke Kräfte“. Auch das ist ein Teil der NRW-Linie, und ich würde wirklich empfehlen, dass Sie sich das noch einmal zur Lektüre vornehmen.

Diese NRW-Linie beschreibt aus meiner Sicht sehr gut, dass Deeskalation bzw. ein angemessener verhältnismäßiger Polizeieinsatz gerade dazu führen, bei Demonstrationen Gewalt zu vermeiden und eine Eskalation zu verhindern. Genau darum muss es uns auch zum Schutz der eingesetzten Beamtinnen und Beamten gehen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Herr Lürbke, ich komme zu Ihren Ausführungen. Jetzt so zu tun, als wäre es normal, dass Gesetze innerhalb einer Koalition grundlegend überarbeitet würden, wenn sie dem Parlament einmal vorlägen, ist schlichtweg weltfremd. Jeder, der schon einmal in einer Koalition war, weiß das auch. Selbst wenn es der Fall wäre, dass man ein Gesetz dann noch einmal grundsätzlich komplett umschreiben würde, würde ich mich fragen, warum ein Minister Stamp, ein Minister Pinkwart und eine Ministerin Gebauer diesem Gesetzentwurf zugestimmt haben.

(Bodo Löttgen [CDU]: Ja, der ist gut!)

Abgesehen davon, dass ich immer noch nicht weiß, was die FDP jetzt an diesem Gesetzentwurf konkret ändern will – Sie sind im Plenum maximal nebulös geblieben –, will ich auch noch einmal klar feststellen, dass eine Überarbeitung des Gesetzentwurfs alleine überhaupt nicht reicht. Der Duktus des Gesetzes und die Gesetzesbegründung mit den unsäglichen Vergleichen, indem zum Beispiel die Klimaschutzbewegung mit der SS und der SA gleichgesetzt wird, gehen einfach nicht. Das kriegen Sie auch nicht über eine Überarbeitung weg, denn die Begründung bleibt doch stehen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Deshalb will ich noch einmal sagen: Wir brauchen ein modernes Versammlungsgesetz, das die Rechtsprechung berücksichtigt, aber es muss ein Versammlungsfreiheitsgesetz sein, das Art. 8 Grundgesetz schützt. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, Regina Kopp-Herr [SPD] und Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])