“Nordrhein-Westfalen könnte beim Hochwasserschutz bereits viel weiter sein”

Zum Sonderplenum aus Anlass der Flutkatastrophe

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verwüstete Dörfer, völlig zerstörte Häuser und Wassermassen, die Erinnerungsstücke wie Fotoalben oder Kuscheltiere weggerissen haben – die Flut vor vier Wochen war die größte Naturkatastrophe in der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen. Mehr als 180 Menschen in Deutschland haben ihr Leben verloren, in Rheinland-Pfalz werden immer noch Menschen vermisst, und viele Menschen sind verletzt und traumatisiert. Dazu kommen diejenigen, die alles verloren haben. Die materiellen und vor allem die immateriellen Schäden sind enorm.

Wir gedenken heute den Menschen, die ihr Leben in Nordrhein-Westfalen, aber auch bei unseren Nachbarn in Rheinland-Pfalz und in Belgien verloren haben. Unsere Gedanken sind bei ihren Angehörigen, aber auch bei den Verletzten und allen, die ihr Hab und Gut verloren haben. Ich möchte mich dem Dank an die Einsatzkräfte von Feuerwehren und anerkannten Hilfsorganisationen, an das THW und an die Bundeswehr sowie die Polizei, die alle unermüdlich vor Ort geholfen haben und helfen, anschließen. Mein Dank gilt natürlich ebenso allen spontanen Helferinnen und Helfern, denjenigen, die Geld- und Sachmittel gespendet haben, und den Hotels, die Übernachtungsmöglichkeiten bereitgestellt haben. Vielen Dank dafür!

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD, der FDP und von Markus Wagner [AfD])

Die Soforthilfen sind wichtig, um schnell und unkompliziert zu helfen, doch 3.500 Euro sind nicht viel Geld, wenn man alles verloren hat und die Versicherung nicht einspringt. Die Menschen brauchen deshalb schnell Klarheit darüber, wann sie wie viel Unterstützung zu erwarten haben. Darüber hinaus ist wichtig, dass die Hilfe ankommt, und das gilt natürlich auch für unsere Kommunen. Die Beseitigung der Schäden an der öffentlichen Infrastruktur – an den Straßen und an Gebäuden wie beispielsweise den Rathäusern, Schulen und Kitas – wird uns über Jahre hinweg auch hier im Landtag von Nordrhein-Westfalen begleiten.

Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Land. Ich gehe davon aus, dass Ministerpräsident Armin Laschet bald auf uns zukommen wird, um das Parlament zeitnah zu beteiligen. Außerdem würde ich Sie bitten, mit dem Fraktionsvorsitzenden der Union im Bundestag zu sprechen. Die Grünen und auch die FDP fordern seit Längerem eine Sondersitzung des Deutschen Bundestags, und ich kann mich anschließen: Es wäre wichtig, dass diese Sitzung stattfindet und die CDU und SPD ihre Verweigerungshaltung im Bundestag dazu aufgeben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal deutlich feststellen, dass die grüne Fraktion im Landtag selbstverständlich hinter den Menschen, den Kommunen und den Unternehmen steht und wir die Beschlüsse für die entsprechenden finanziellen Mittel hier im Landtag selbstverständlich unterstützen werden.

Die Menschen in den Hochwassergebieten brauchen Hilfe, um das Nötigste kaufen zu können und um eine Perspektive zu bekommen. Dafür sind diese Soforthilfen wichtig.

Um das Erlebte verarbeiten zu können, sind gerade die psychosozialen Angebote wichtig. Ich bin froh, dass die Traumaambulanzen der Landschaftsverbände für die Flutopfer offenstehen.

Das Angebot des schulpsychologischen Dienstes ist unverzichtbar für die Kinder und Jugendlichen. Ich denke, wir können gar nicht richtig ermessen, was die Geschehnisse für die Kinder bedeutet, die zum Teil Schreckliches mitansehen und auch die Verzweiflung und die Unsicherheit bei den Erwachsenen, bei ihren Eltern miterleben mussten.

Wir als Politikerinnen und Politiker stehen in der Verantwortung, für diese Hilfe zu sorgen, und zwar sowohl für finanzielle Soforthilfe als auch für psychosoziale Angebote.

Wir stehen aber auch in der Verantwortung, einen ehrlichen Blick zurück zu werfen und Abläufe aufzuarbeiten. Wir alle haben, denke ich, in den letzten Tagen und Wochen viele Gespräche geführt. In einem Gespräch hat mir eine Betroffene aus Erftstadt die Frage mit auf den Weg gegeben, wie die Bevölkerung gewarnt wurde. – Das ist einfach nicht passiert. Dass die Bevölkerung gewarnt wird und möglicherweise evakuiert werden kann, setzt voraus, dass die Behörden die Gefahr tatsächlich erkennen. Das ist offenbar nur unzureichend geschehen.

Anders, als es der Innenminister darstellt, lagen vor dieser Hochwasserkatastrophe eindrückliche Warnungen vor. Das Europäische Hochwasserwarnsystem EFAS hat bereits ab dem 10. Juli die nationalen Behörden gewarnt. Am Montag, den 12. Juli, haben das Land Nordrhein-Westfalen und die Kommunen die Warnungen des Deutschen Wetterdienstes erhalten.

Im Innenausschuss konnte der Innenminister vor zwei Wochen nicht nachvollziehbar erläutern, warum es am 12. Juli innerhalb der Landesregierung, also insbesondere zwischen dem für Katastrophenschutz zuständigen Innenministerium und dem für den Hochwasserschutz zuständigen Umweltministerium vor dem Eintreten der Katastrophe und spätestens dann, als die Warnungen des Deutschen Wetterdienstes vorlagen, keinerlei Austausch gegeben hat.

Ich meine, dass die Ministerien zu diesem Zeitpunkt viel zu besprechen gehabt hätten, zum Beispiel die Frage der Aufnahmekapazitäten der Talsperren betreffend.

Aber es stellen sich noch weitere Fragen: Warum hat die Landesregierung die kreisfreien Städte und Kreise als untere Katastrophenschutzbehörden nicht bei der Bewertung der Unwetterwarnung unterstützt und sie zum Handeln aufgefordert?

Ich finde, dass sich das Innenministerium nicht aus der Verantwortung ziehen kann. Das Innenministerium ist die Aufsichtsbehörde und hätte aus meiner Sicht diese Bewertung vornehmen und entsprechend auf die Städte und Kreise zugehen müssen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Warum wurde die Bevölkerung nicht an allen Orten gewarnt? Wieso hat hier die Landesregierung keine Verantwortung übernommen und selbst gewarnt, obwohl sie durch das BHKG, also durch unser Katastrophenschutzgesetz, und den Warnerlass die rechtlichen Möglichkeiten dazu hat? Warum sind die Kommunen nicht zum Handeln aufgefordert worden, als in anderen Kommunen bereits kleine Bäche zu reißenden Sturzfluten angewachsen sind? Warum ist kein Krisenstab der Landesregierung aktiviert worden, obwohl wir ihn vorsehen?

Die Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, wo und warum Fehler gemacht wurden. Wir müssen aus dieser Katastrophe lernen und die richtigen Konsequenzen ziehen, um den Katastrophenschutz für die Zukunft zu stärken.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Mir ist dabei eines wirklich sehr wichtig: Diese Kritik bezieht sich nicht auf die Einsatzkräfte. Ich bin den Angehörigen des Katastrophenschutzes sehr dankbar dafür, dass sie alles gegeben haben und es auch heute tun, um Menschenleben zu schützen und vor Ort Hilfe zu leisten.

Aber diese Katastrophe, wie zuvor auch schon der Beginn der Coronapandemie, hat doch gezeigt, dass wir strukturelle Veränderungen im Katastrophenschutz brauchen. Analog zu den Brandschutzbedarfsplänen brauchen wir Katastrophenschutzbedarfspläne.

Die Stadträte stimmen alle fünf Jahre über den Brandschutzbedarfsplan ab. Darin wird festgehalten, wann die Feuerwehr bei welchem Einsatzszenario in welcher Zeit mit wieviel Personal vor Ort sein muss. Das sind die Schutzziele. Sie legen damit den Bedarf an Personal und Technik fest. Das brauchen wir auch für den Katastrophenschutz, und zwar für unterschiedliche Szenarien vom Waldbrand über langanhaltende Stromausfälle bis hin zum Hochwasser.

Das Innenministerium muss in solchen Katastrophenfällen die Kommunen unterstützen können. Das Innenministerium muss auch Entscheidungen vorgeben können, wie etwa bei Evakuierungen. Es muss die Möglichkeit geben, dass das Innenministerium Zuständigkeiten an sich ziehen kann. Dafür brauchen wir mehr als nur eine Aufsichtsbehörde. Wir brauchen eine Katastrophenschutzbehörde auf Landesebene und eine eigene Katastrophenplanung. Und ganz wichtig ist: Wir brauchen die Verzahnung mit anderen Landesbehörden wie im Falle von Hochwasser zwischen Umweltministerium und dem LANUV.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir alle wissen, dass sich solche Katastrophenfälle nicht für Landesgrenzen interessieren. Deshalb müssen wir für die Länder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das BBK, als Zentralstelle im Katastrophenfall umbauen. Es muss die Länder unterstützen dürfen, zum Beispiel beim Einsatz von Hubschraubern, und es muss den Einsatz und den Informationsfluss koordinieren.

Es ist doch absurd, dass wir ein fachlich hervorragend aufgestelltes Bundesamt haben, welches aber im Katastrophenfall nicht tätig werden darf. Hier müssen endlich die Länder ihre Weigerungshaltung aufgeben. Ich sehe hier auch die Landesregierung in der Pflicht, diese Veränderungen voranzutreiben, um den Katastrophenschutz insgesamt zu stärken.

(Beifall von den GRÜNEN)

Neben dem Katastrophenschutz muss die große Lehre aus dieser Naturkatastrophe doch sein, dass wir den Hochwasserschutz stärken; denn es wird aufgrund der Klimakrise immer häufiger zu Extremwetterereignissen kommen. Wir werden Hochwasser und Überschwemmungen nie ganz verhindern können, aber wir müssen Vorsorge beim Hochwasserschutz betreiben.

Leider wurde in den letzten vier Jahren unter Schwarz-Gelb eine wichtige Chance vertan. Nordrhein-Westfalen könnte beim Hochwasserschutz bereits viel weiter sein.

Damit Hochwasser nicht Wohnhäuser, Schulen und Vereinsheime überflutet, braucht es vor allem eines: Fläche. Das Wasser muss sich ausbreiten und versickern können. Doch statt Überschwemmungsgebiete und flussnahe Flächen zu schützen, hat die Regierung Laschet der Flächenversiegelung freien Lauf gelassen.

(Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Also!)

Derzeit werden in Nordrhein-Westfalen etwa 22 ha Fläche pro Tag versiegelt. Es ist schön, Frau Ministerin Scharrenbach, dass Sie das 5-Hektar-Ziel noch im Herzen tragen, aber es bringt nichts, wenn Sie dieses Ziel, diesen Grundsatz aus dem Landesentwicklungsplan streichen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Nicht nur beim Zubetonieren von Fläche, sondern auch bei der Änderung des Landeswassergesetzes folgte die schwarz-gelbe Landesregierung ihrem Dogma der Entfesselung und hat die Bestimmungen für die Überschwemmungsgebiete gelockert. Die Regelung zum Schutz der Flächen, die dem Hochwasserschutz dienen, wurde gestrichen. Auch das Vorkaufsrecht des Landes von Flächen zugunsten der naturnahen Gewässerentwicklung wurde ersatzlos gestrichen. Damit wurde die Chance vertan, flussnahe Flächen durch die öffentliche Hand aufzukaufen, und diese für die Hochwasserschutz zu nutzen.

Das ist eine Schwächung des Hochwasserschutzes. Deshalb müssen solche Änderungen so schnell wie möglich wieder rückgängig gemacht werden. Unsere Stimmen dafür haben Sie.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir erleben in diesem Sommer Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz, und gleichzeitig brennen Wälder in Griechenland, in der Türkei und seit Wochen schon in Sibirien, wo der Permafrost taut und das bislang gebundene CO2 und Methan freigesetzt wird. Das klingt alles irgendwie nach Apokalypse in einem ziemlich schlechten Science-Fiction-Film, aber es ist Realität.

Der Klimawandel ist kein Unheil, das unsere Urenkel erst in ferner Zeit irgendwann betreffen wird, sondern die Klimakatastrophe ist heute längst Realität. Wir müssen deshalb Klimafolgenanpassung betreiben und unsere Städte widerstandsfähiger machen. Wir müssen auf Naturkatastrophen wie Hochwasser, Waldbrände und Dürren vorbereitet sein.

Aber – das ist mir auch wichtig – die Klimafolgenanpassung alleine reicht nicht aus. Wir erleben derzeit schon die Auswirkungen des Klimawandels bei einer Erderwärmung von 1,2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit. Die Klimakrise ist unumkehrbar. Das macht auch der heute vorgestellte erste Teilbericht des Weltklimarates in dramatischer Weise deutlich.

Deshalb müssen wir alles daransetzen, die weitere Erwärmung auf das 1,5-Grad-Ziel zu begrenzen. Das bedeutet, dass Deutschland bis spätestens 2030 aus der Kohle aussteigen muss, dass die Windenergie ausgebaut werden muss anstatt sie auszubremsen, wie es diese Landesregierung tut, dass wir Solardächer zum Standard in unseren Städten machen.

(Beifall von den GRÜNEN und Josef Hovenjürgen [CDU])

Denn die Flutkatastrophe in unseren Städten, sei es in Hagen, in Erftstadt, im Kreis Euskirchen oder an vielen anderen Orten in Nordrhein-Westfalen, hat uns doch eines deutlich vor Augen geführt, nämlich dass Naturkatastrophen Menschenleben bedrohen und die Auswirkungen des Klimawandels unseren heutigen Wohlstand gefährden.

Deshalb kann ich Aussagen wie „Weil jetzt ein solcher Tag ist, verändert man nicht die Politik“ schlichtweg nicht nachvollziehen. Ich halte es für fahrlässig, ich halte es für unverantwortlich, wie man mit dem Erkenntnisgewinn über die Klimakatastrophe und den direkten Erfahrungen ihrer Auswirkung auf ein „Weiter so!“ setzen kann.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ja, Herr Hovenjürgen, da kann man den Kopf schütteln. Aber wir erleben gerade in diesem Sommer die Auswirkungen der Klimakatastrophe.

(Zuruf von Dr. Christian Blex [AfD])

Wenn man jetzt darauf setzt, einfach weiterzumachen, dann ist auch klar, dass es so weitergehen wird. Die Erderwärmung wird weiter steigen, und das wird weitere Katastrophen zur Folge haben. Der Klimawandel ist unumkehrbar. Es sind schon 1,2 Grad Erderwärmung passiert, und wenn wir nicht gegensteuern, dann haben wir tatsächlich ein Riesenproblem. Das muss man doch spätestens jetzt endlich einsehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deshalb muss alles dafür getan werden, die Klimakrise zu bekämpfen, unsere Städte auf die Folgen des Klimawandels vorzubereiten und auch unseren Katastrophenschutz zu stärken. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)