Pressemitteilung: NSU-Urteil ist wichtiges Signal

Zum Urteil im Münchener NSU-Prozess erklärt Verena Schäffer, innenpolitische Sprecherin und Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus

„Die lebenslange Haftstrafe für Beate Zschäpe unter Feststellung einer besonderen Schwere der Schuld ist ein deutliches Signal an die rechtsextreme Szene in Deutschland, dass unser Rechtsstaat konsequent handelt.

Dennoch müssen wir festhalten, dass es auch sieben Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen im Bundestag und in den Landtagen und fünf Jahren Gerichtsprozess bis heute keine vollständige Aufklärung gibt. In dem Münchener Prozess wurde lediglich über die Schuld von fünf Personen entschieden. Es gibt allerdings stichhaltige Hinweise auf ein weitaus größeres Netzwerk von Unterstützerinnen und Unterstützern, die dem NSU bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Verbrechen geholfen haben. Möglich ist auch, dass es noch weitere Verbrechen des NSU gab, die bisher nicht ermittelt wurden. Auch das Versagen der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden ist bisher nur unzureichend aufgeklärt. Durch die vorurteilsbehafteten Ermittlungen wurden die Opfer und ihre Angehörigen zu Tätern gemacht und damit eines zweites Mal viktimisiert.

Die Aufarbeitung der rechtsterroristischen Taten im nordrhein-westfälischen NSU-Untersuchungsausschuss mündete in klaren Handlungsempfehlungen, die solche Fehler in Zukunft verhindern können und für eine bessere Prävention von Rechtsextremismus und Rassismus sorgen. Der heutige Tag sollte der schwarz-gelben Landesregierung eine Mahnung sein, diese Handlungsempfehlungen nun endlich umzusetzen.“

Newsletter: Aktivitäten gegen Rechtsextremismus Mai 2017

Rechte Straftaten in NRW und Abschlussbericht PUA NSU

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

nach der Landtagswahl am Sonntag ändert sich Vieles: Wir GRÜNE gehen in die Opposition, die AfD gehört in der neuen Legislaturperiode dem Landtag an. Die Arbeit gegen Rechtsextremismus und Rassismus bleibt also ein wichtiges Themenfeld. Das zeigen auch neue Zahlen aus dem Innenministerium zur politisch motivierten Kriminalität – Rechts (PMK Rechts). Darüber und über den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses NSU möchte ich in diesem Kommunalinfo berichten.

Rechtsextreme und rassistische Straftaten in NRW weiter gestiegen

Seit Jahren ist ein kontinuierlicher Anstieg der politisch rechts motivierten Straftaten in NRW zu beobachten. Zeitgleich zum Aufkommen von HoGeSa und Pegida sowie der Radikalisierung der AfD ist die Zahl der rechten Straftaten deutlich gestiegen: Im Jahr 2014 wurden insgesamt 3.286 Straftaten in NRW registriert, im Jahr 2015 waren es 4.437 und im Jahr 2016 wurde mit 4.700 Straftaten ein neuer trauriger Höchststand erreicht. Wir haben die Zahlen des Innenministeriums in einem Blogbeitrag auf der Seite der Landtagsfraktion ausführlich ausgewertet. Die Entwicklung der Straftaten von 2011 bis 2016 findet sich in dieser Tabelle.

Wir haben auch die Entwicklung der rechtsextremen Straftaten aufgeschlüsselt nach Orten beim Innenministerium abgefragt. Unter den Städten mit den meisten rechten Straftaten über den gesamten Zeitraum 2014 bis 2016 befinden sich Köln, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Wuppertal, Essen und die Städteregion Aachen. Köln stand im Jahr 2016 mit 455 Straftaten an erster Stelle. Dahinter folgten Duisburg (332), Dortmund (308), Düsseldorf (182), Wuppertal (168), Essen (153) und die Städteregion Aachen (143). Im Jahr 2015 zeichnete sich ein ähnliches Bild ab, wobei dort Dortmund mit 424 Straftaten die meisten aufwies. Es folgten Köln (291), Wuppertal (276), Düsseldorf (258), Essen (177), Duisburg (175) und die Städteregion Aachen (136). Unter den genannten Städten sind sowohl Orte mit einer aktiven rechtsextremen Szene als auch Orte, an denen zentrale rechtsextreme Veranstaltungen stattfanden.

Erstmals haben wir auch flüchtlingsfeindliche Straftaten abgefragt. Die Anzahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterbringungen ist von 25 politisch rechts motivierten Angriffen im Jahr 2014 auf 222 Angriffe im Jahr 2015 hochgeschnellt. Im Jahr 2016 wurden sogar 484 solcher Straftaten erfasst. Außerhalb der PMK-Statistik werden auch weitere Straftaten gegen Geflüchtete gesammelt. Die entsprechenden Daten haben wir ebenfalls erfragt. Im Jahr 2015 wurden insgesamt 243 und im Jahr 2016 501 Straftaten gegen Flüchtlingsunterbringungen und Geflüchtete verzeichnet. Die Zahlen von 2015 und 2016 sind nur bedingt vergleichbar, da seit dem 1. Januar 2016 auch Angriffe gegen Geflüchtete selbst und nicht nur Angriffe auf Flüchtlingsunterbringungen erfasst werden. Bereits im letzten Jahr machten die Sicherheitsbehörden darauf aufmerksam, dass die Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte in rund 75 Prozent der Fälle von Personen aus der unmittelbaren Umgebung der Unterkünfte begangen worden seien. Darüber hinaus sei der Großteil (ebenfalls rund 75 Prozent) der Täter*innen der Polizei nicht als Akteur*innen der rechtsextremen Szene bekannt.

Abgefragt haben wir auch die Entwicklung der antisemitischen Straftaten. Hier stieg die Zahl der Straftaten von 270 in 2015 auf 297 in 2016. Die Anzahl der Gewalttaten sank von acht Fällen in 2015 auf zwei Fälle in 2016. Der größte Teil der antisemitischen Straftaten hatte einen rechtsextremen Hintergrund. 2015 waren es 227 von 270 Straftaten. Für 2016 liegt uns leider keine Aufschlüsselung der antisemitischen Straftaten nach Phänomen-Bereichen (PMK-Rechts, PMK-Links oder PMK-Ausländer) vor.

Eine neue Landesregierung wird sich daran messen lassen müssen, welche Bedeutung für sie die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus hat. Neben der Fortführung und Weiterentwicklung des von uns initiierten integrierten Handlungskonzepts muss sie die 30 gemeinsamen Handlungsempfehlungen aller Fraktionen im NSU-Untersuchungsausschuss zügig umsetzen.

NSU-Untersuchungsausschuss legt Abschlussbericht vor

Der Landtag NRW hatte im Oktober 2014 einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingesetzt, um die NSU-Verbrechen in Nordrhein-Westfalen aufzuarbeiten. Im April 2017 hat der Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vorgelegt. Der Bericht kann hier heruntergeladen werden, auf den Seiten 776-782 finden Sie / findet Ihr das Grüne Sondervotum und hier meine Plenarrede.

Hier ist eine kurze Bewertung der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses aus Grüner Sicht, die (fast) gleichlautend auch als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 8. April 2017 erschienen ist:

Bei allen NSU-Verbrechen wurde trotz verschiedener Hinweise nie ernsthaft in Richtung Rechtsextremismus ermittelt. Den Opfern wurden Verstrickungen in die organisierte Kriminalität, ins Drogenmilieu und zu Schutzgelderpressungen unterstellt. Insbesondere beim Anschlag in der Kölner Keupstraße wurde das vorurteilsbehaftete Bild der Polizei deutlich, die offenbar diese migrantisch geprägte Straße mit Kriminalität gleichsetzte. Den Abgeordneten aller Fraktionen war es deshalb wichtig,die Opfer zu hören. Gamze Kuba??k, die Tochter des ermordeten Mehmet Kuba??k, schilderte eindrücklich: „Es ist ja schon schlimm, wenn man den Vater verliert. Aber dass man uns dann auch noch den Stolz wegnimmt, das war das Schlimmste für mich.“

Die Kette von Ermittlungsfehlern kann nicht unter der Kategorie Pleiten, Pech und Pannen abgetan werden. Die Ursachen liegen tiefer. Es geht um institutionellen Rassismus, der sich auch in „Einstellungen und Verhaltensweisen“ zeigt, die durch „unwissentliche Vorurteile, Ignoranz und Gedankenlosigkeit zu Diskriminierung führen“ (so die britische Macpherson-Kommission). Die Ermittlungen zu den NSU-Verbrechen bringen diesen institutionellen Rassismus zum Ausdruck. Wir wollen deshalb eine Kommission zur Untersuchung von möglichen diskriminierenden Handlungsweisen der Polizei einrichten. Sie soll konkrete Maßnahmen zur Verhinderung diskriminierender Polizeiarbeit entwickeln. Es wäre ein wichtiger Schritt, um Fehleinschätzungen zu rassistischen Motiven von Täterinnen und Tätern zukünftig zu verhindern.

Auch fünf Jahre nach Bekanntwerden des NSU sind viele Fragen rund um die rechtsterroristischen Verbrechen ungeklärt. Der Ausschuss hat etwa deutliche Zweifel an der Täterschaft von Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt beim Anschlag in der Kölner Probsteigasse formuliert. Die Opferzeugen konnten keinen der beiden als den Mann identifizieren, der im Dezember 2000 die Sprengfalle im Laden des iranstämmigen Inhabers platzierte. Nur aufgrund des Bekennervideos wird der Anschlag heute dem NSU zugerechnet, dabei enthält dieses keinerlei Täterwissen. Es liegt nahe, dass mindestens eine weitere Person als Mitglied oder Unterstützer des NSU an dem Anschlag beteiligt war. Möglichweise gibt es sogar einen Zusammenhang zu Sprengfallen-Anschlägen 1992/1993 in Köln, die noch immer nicht aufgeklärt sind. In den polizeilichen Ermittlungen zur Probsteigasse spielen diese aber bis heute keine Rolle.

Ein konkretes Unterstützernetzwerk des NSU in NRW konnte der Ausschuss trotz intensiver Befassung mit der gewaltbereiten Neonaziszene nicht nachweisen. Wir GRÜNE sehen die These eines Unterstützernetzwerks durch die Untersuchungsergebnisse allerdings noch gestützt. Die Morde an Mehmet Kuba??k am 4. April 2006 in Dortmund und an Halit Yozgat zwei Tage später in Kassel liegen nicht nur zeitlich und räumlich nah beieinander. Auch zwischen den Neonaziszenen in beiden Städten bestehen enge Verbindungen. Anfang der 2000er-Jahre bildete sich um die Dortmunder Neonazi-Band Oidoxie die „Oidoxie Streetfighting Crew“, die als Security bei Konzerten diente. Mitglieder waren Rechtsextremisten aus Dortmund und Kassel, geführt wurden sie von einem Kasseler Neonazi. Die Band Oidoxie bewegte sich im Netzwerk „Blood and Honour“ und propagierte die Ideen seines gewaltbereiten Arms „Combat 18“. Aus den Akten und Zeugenvernehmungen wurden zudem Bestrebungen erkennbar, aus der „Oidoxie Streetfighting Crew“ eine „Combat 18“-Zelle in Dortmund zu bilden – ausgerechnet als verschiedene „Combat 18“ zugerechnete Magazine die Strategie des „führerlosen Widerstandes“ verbreiteten.

Bisher gänzlich ungeklärt ist die Tatortauswahl des NSU. Bemerkenswert nah liegen die Tatorte zweier dem NSU zugerechneter Taten in NRW an Orten, an denen in den 30er-Jahren „Blutzeugen“ ermordet wurden. Als „Blutzeugen“ verehrten die Nationalsozialisten Anhänger ihrer Partei, die bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner getötet wurden. Einer dieser „Blutzeugen“ war der SA-Mann Walter Spangenberg, der 1933 in unmittelbarer Nähe zum späteren Tatort des Bombenanschlags in der Kölner Probsteigasse erschossen wurde. Die lokale Kameradschaft benannte sich nach diesem SA-Mann und hielt jahrelang „Heldengedenken“ für ihn ab. In Dortmund wurde Mehmet Kuba??k nur 600 Meter von jenem Ort ermordet, an dem 1930 der Nazi Adolf Höh getötet wurde. Aus den Akten des NRW-Verfassungsschutzes geht hervor, dass sich die dortige Kameradschaft bereits 2002 den Beinamen „Sturm 11 / Adolf Höh“ gab. In Kassel finden sich ganz ähnliche Parallelen. Möglicherweise ist es Zufall. Denkbar ist aber auch, dass der NSU Unterstützer mit Ortskenntnissen hatte oder aber ein Signal an die örtliche Szene senden wollte. Die These eines möglichen Unterstützernetzwerks muss jedenfalls endlich Eingang in die Ermittlungen finden.

Ich möchte mich ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit im Untersuchungsausschuss bei meiner Kollegin Monika Düker, meinem Kollegen Arif Ünal sowie meinen Mitarbeitern, insbesondere Hendrik Puls, bedanken.

Für Nachfragen stehen unsere wissenschaftliche Mitarbeiterin für Strategien gegen Rechtsextremismus, Hasret Karacuban (Hasret.Karacuban@landtag.nrw.de, 0211 884 4321), und ich gerne zur Verfügung.

Herzliche Grüße aus dem Landtag

Verena Schäffer MdL

Stellvertretende Fraktionsvorsitzende

Sprecherin für Innenpolitik und Strategien gegen Rechtsextremismus

Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag NRW
Platz des Landtags 1 * 40221 Düsseldorf

Tel: 0211 – 884 – 4305

Fax: 0211 – 884 – 3334

www.verena-schaeffer.de

www.gruene-fraktion-nrw.de

 

 

Interview anlässlich des Jahrestags der Aufdeckung des NSU

Die Pressestelle der Grünen Landtagsfraktion hat meinen Kollegen Arif Ünal und mich anlässlich des Jahrestags der Aufdeckung des rechtsterroristischen NSU zum aktuellen Stand der Arbeit im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags interviewt:

Vor vier Jahren enttarnte sich das rechtsterroristische Netzwerk NSU, das in den dreizehn Jahren zuvor unentdeckt zahlreiche Verbrechen begangen hatte. Gerade die rassistisch motivierten Morde und die beiden Sprengstoffanschläge in Köln haben die Menschen tief erschüttert. Dieses Ausmaß rechter Gewalt und das gezielte Vorgehen konnte sich kaum jemand vorstellen. Aktuell erleben wir, dass die Zahl rechtsextremer und rassistischer Gewalttaten, insbesondere gegen Geflüchtete, wieder massiv steigt.

Ende letzten Jahres hat der Landtag einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der NSU-Taten in NRW eingesetzt. Welche Erkenntnisse hat der Ausschuss bereits gewonnen?

Arif Ünal:  Wir befinden uns zurzeit mitten in der Phase der Zeugenbefragungen und können noch keine abschließenden Bewertungen abgeben. Aber gerade im Falle des Anschlags in der Probsteigasse im Jahr 2001 stellen wir fest, dass sich mehr neue Fragen ergeben, als wir Antworten finden können. So haben die Ermittlungsbehörden seit der NSU-Aufdeckung noch immer nicht klären können, warum die Rechtsterroristen ausgerechnet diesen kleinen Laden als Ziel aussuchten, der sich in einer für Ortsfremde sicherlich nicht bekannten Straße befindet. Deutlich wurde auch, dass für eine Täterschaft von Böhnhardt oder Mundlos nur Indizien und keine handfesten Beweise vorhanden sind. Wir müssen also weiterhin die Frage nach lokalen Helfern aufwerfen. Unklar bleibt, warum der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz sich zu keinem Zeitpunkt vor 2011 mit dem Anschlag befasst hat.

Dass der polizeiliche Staatsschutz im Jahr 2001 nicht in die Ermittlungen einbezogen war und dass die Ermittler damals keine Verbindung zu drei ähnlichen Bombenanschlägen gezogen haben, die in den Jahren 1992 und 1993 in Köln verübt wurden, ist nicht nachvollziehbar. Vor allem ein im Dezember 1992 gegen eine türkische Familie gerichteter Anschlag in Köln-Ehrenfeld weist große Parallelen zum Anschlag in der Probsteigasse auf.

Der Anschlag in der Kölner Keupstraße ist von den Ermittlungsbehörden nicht als möglicher rechtsterroristischer Anschlag eingeordnet worden. Dass man damals in „alle Richtungen“ ermittelt habe, widerspricht unserem Eindruck, dass die Ermittlungen sich schwerpunktmäßig gegen „organisierte Kriminalität“ richteten.

Welche Themenkomplexe wird der NSU-Untersuchungsausschuss als nächstes behandeln?
Verena Schäffer: Die Kölner Bombenanschläge werden uns auch in der kommenden Zeit noch beschäftigen, da uns im September die Spurenakten des Ermittlungsverfahrens Keupstraße noch nicht vorlagen. Außerdem ist bezüglich der Probsteigassen-Ermittlungen nach Enttarnung des NSU noch unklar, welche Rolle der Neonazi Johann H. spielte. Im Januar werden wir uns dann dem Mord an dem Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kuba??k im Jahr 2006 zuwenden. Hierbei geht es uns vor allem darum, zu untersuchen, ob die zuständigen Sicherheitsbehörden im Bereich der lokalen Neonazistrukturen ermittelten und ihre Erkenntnisse weitergaben. Denn nach wie vor ist nicht geklärt, ob es vor Ort ein Unterstützernetzwerk des NSU gab. Außerdem wollen wir Verbindungen zwischen den Neonazi-Szenen in Dortmund und Kassel herausarbeiten, wo wenige Tage nach der Dortmunder Tat Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen wurde.

Im Untersuchungsausschuss wurden auch Betroffene des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße als Zeugen gehört. Was nehmt ihr aus diesen Zeugenvernehmungen mit?
Arif Ünal: In erster Linie wurde deutlich, dass die „Kriminalisierung“ der Keupstraße nach dem Anschlag immense Spuren bei den Betroffenen hinterlassen hat. Die Zeugen haben deutlich geschildert, dass sie sich von der Polizei nicht als Opfer sondern vielmehr wie Täter oder Mitwisser behandelt fühlten. Das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und Politik wurde zutiefst erschüttert. Auch wenn sich vereinzelte Akteure im Nachhinein für die Ermittlungsfehler entschuldigt haben, werden warme Worte alleine nicht ausreichen. Die Betroffenen erwarten eine lückenlose Aufklärung und schöpfen auch Hoffnung aus unserer Arbeit als Untersuchungsausschuss. Es ist nach wie vor unerklärlich, warum die Sicherheitsbehörden trotz vieler Indizien und Hinweise seitens der Betroffenen in der Kölner Keupstraße nicht konsequent in Richtung eines rassistischen Tatmotivs ermittelt haben. Hier sind wir als Ausschussmitglieder gefragt, dieser verzerrten Wahrnehmung intensiv nachzugehen, sowie systematische Fehler und rassistische Denkmuster zu identifizieren.

Welche Konsequenzen müssen aus dem Versagen der Sicherheits- und Justizbehörden gezogen werden? Sind davon bereits Maßnahmen umgesetzt worden?


Verena Schäffer:
 Solche Maßnahmen zu erarbeiten, ist neben der Aufklärung Aufgabe des Untersuchungsausschusses. Aus meiner Sicht müssen die Menschenrechtsbildung und interkulturelle Kompetenzen fester Bestandteil der Aus- und Fortbildung sein. Bei den Ermittlungsbehörden müssen wir mehr Menschen mit Migrationshintergrund einstellen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Themen Rassismus und Rechtsextremismus sensibilisieren. Den Austausch der Behörden mit zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus wollen wir stärken. Vor drei Jahren haben wir bereits ein Gesetz verabschiedet, dass mehr Kontrolle des Verfassungsschutzes ermöglicht und seine Aufgaben auf gewaltbereite verfassungsfeindliche Gruppierungen fokussiert.

NSU-Untersuchungsausschuss vernimmt im August erste ZeugInnen

Am 19. August wird der NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen mit der Beweisaufnahme zum Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse beginnen. Seit seiner Einsetzung hatten sich die Abgeordneten und MitarbeiterInnen in Expertenanhörungen zunächst mit der Entwicklung des Rechtsextremismus in NRW sowie rechtsextremen Gruppierungen und Einzelpersonen auseinandergesetzt.

Dabei hat die GRÜNE Fraktion auch den institutionalisierten Rassismus zum Thema gemacht, der aus unserer Sicht den Umgang mit den Opfern und Angehörigen prägte.

Ziel des NSU-Untersuchungsausschusses ist es, mögliche Versäumnisse bei den Ermittlungen zu den NSU-Verbrechen in NRW aufzuklären. Die Anschläge in der Probsteigasse und der Keupstraße in Köln sowie die Ermordung des Dortmunders Mehmet Kuba??k werden dem NSU zugerechnet. Auch der Anschlag am Düsseldorfer Wehrhahn, der sich kürzlich zum 15. Mal jährte, die Morde des Neonazis Michael Berger am 14. Juni 2000 in Dortmund und Waltrop sowie die Tätigkeit und Todesumstände des V-Manns „Corelli“ sind Teil des Untersuchungsauftrags.

Bis zum Jahresende wird sich der Untersuchungsausschuss schwerpunktmäßig mit den beiden Bombenanschlägen in Köln beschäftigen. Am 19. Januar 2001 explodierte in einem kleinen Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse eine einige Wochen zuvor dort hinterlassende Sprengfalle und verletzte die Tochter des Inhabers schwer. Eine zentrale Frage der GRÜNEN Fraktion ist, warum die TäterInnen ausgerechnet einen Laden als Anschlagsziel wählten, bei dem von außen nicht erkennbar war, dass er von einer iranischen Familie betrieben wird. Außerdem stellt sich die Frage, wer die Bombe im Geschäft ablegte. Denn die Beschreibungen von AugenzeugInnen stimmen nicht mit dem Aussehen von Uwe Böhnhard und Uwe Mundlos überein.

Vielmehr weist ein 2001 erstelltes Phantombild eine gewisse Ähnlichkeit mit H. auf, dem stellvertretenden Kameradschaftsführer der „Kameradschaft Köln“. Diese Ähnlichkeit meldete der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz den Ermittlungsbehörden erst im Februar 2012. Die „Welt am Sonntag“ bezeichnete H. kürzlich als „geheimen Mitarbeiter“ des Verfassungsschutzes. Sollte sich herausstellen, dass dieser zum Zeitpunkt des Anschlags in der Probsteigasse tatsächlich ein V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes war, drängt sich die Frage auf, warum der Verfassungsschutz der Polizei nicht bereits im Jahr 2001 dessen Ähnlichkeit mit dem Phantombild mitteilte. Dies hätte bei den Ermittlungen 2001 möglicherweise ein entscheidender Hinweis sein können, um einen rassistischen Hintergrund der Tat ebenso in den Blick zu nehmen wie die lokale Neonazi-Szene. H. wurde vom Ausschuss ebenso als Zeuge geladen wie die damalige Leiterin der Verfassungsschutzabteilung, Mathilde Koller, und Innenminister a.D. Fritz Behrens.

Ab September wird sich der Untersuchungsausschuss dann mit dem Nagelbombenanschlag 2004 in der Keupstraße beschäftigen. Wie bei keiner anderen dem NSU zugerechnete Tat drängte sich hier ein möglicher rechtsterroristischer beziehungsweise rassistischer Hintergrund geradezu auf, zumal andere Ermittlungshypothesen, die das Motiv der Tat bei den Opfern und AnwohnerInnen der Keupstraße suchten, ohne Ergebnisse blieben.

Kommunalinfo: Einsetzung des NSU-Untersuchungsausschusses in NRW beschlossen

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde,

die Aufdeckung des NSU im Herbst 2011 versetzte das Land in einen Schock. Was bis dahin für unmöglich gehalten wurde, war real: Über 13 Jahre konnte eine militant-rechtsextremistische Terrorgruppe unentdeckt durch die Republik ziehen und dabei Menschen ermorden, Sprengsätze zünden sowie Banküberfälle verüben. Ein eklatantes Versagen der Sicherheits- und Justizbehörden trat zu Tage.

Auch drei Jahre und mehrere Untersuchungsausschüsse im Deutschen Bundestag sowie in anderen Bundesländern später sind noch viele Fragen ungeklärt. Deshalb hat der nordrhein-westfälische Landtag gestern einstimmig einen gemeinsamen Antrag zur Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum NSU-Terror in Nordrhein-Westfalen beschlossen. Mit dem Beschluss haben wir eine gute Arbeitsgrundlage für die kommenden rund zwei Jahre geschaffen. Ein Video mit Ausschnitten aus meiner Rede und Erläuterungen zu den Grünen Schwerpunkten finden Sie / findet ihr hier.

Aufklären wollen wir die Anschläge des NSU in der Probsteigasse, wo am 19. Januar 2001 in einem Lebensmittelladen einer iranischstämmigen Familie die damals 19-jährige Tochter durch die Explosion eines Sprengsatzes schwer verletzt wurde, und in der Kölner Keupstraße am 09. Juni 2004, wo viele Migrantinnen und Migranten wohnen und arbeiten, sowie den Mord an Mehmet Kuba??k am 04. April 2006 in Dortmund, welcher der 8. Mordfall in der ?eská-Mordserie darstellte. Daneben werden auch die Aktivitäten und der Tod des V-Mannes des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Corelli“ im Mittelpunkt der Aufklärung stehen. Darüber hinaus wird sich der Untersuchungsausschuss mit dem bisher unaufgeklärten Anschlag an der Düsseldorfer S-Bahnhaltestelle Wehrhahn am 27. Juli 2000 und dem so genannten dreifachen Polizistenmord durch den Rechtsextremisten Michael Berger am 14. Juni 2000 in Dortmund und Waltrop beschäftigen.

Als GRÜNE Fraktion haben wir die für uns wichtigen Punkte in den Einsetzungsbeschlusses eingebracht. Eine zentrale Frage in diesem Untersuchungsausschuss ist, ob es ein mögliches Unterstützernetzwerk von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegeben hat. Um ein solches mögliches Unterstützernetzwerk aufzudecken, ist es aus unserer Sicht notwendig, dass sich der Untersuchungsausschuss mit den Akteuren und Netzwerken der rechtsextremistischen Szene im Zusammenhang mit dem NSU ab den 1990er Jahren beschäftigen. Dazu gehören insbesondere die Fragen, welche organisatorischen Netzwerke ins benachbarte Ausland und nach Ostdeutschland und welche Strategien und Vorbereitungen zur Durchsetzung ideologischer Ziele mittels Gewalt sich in Nordrhein-Westfalen herausgebildet haben sowie zu welchen Gewaltanwendungen es durch rechtsextremistische Gruppierungen und Einzelpersonen gekommen ist.

Neben der Aufklärung legen wir GRÜNE einen Schwerpunkt auf die Erarbeitung von Konsequenzen für die Sicherheitsbehörden, denn diese Mordserie hat ein eklatantes strukturelles Versagen unserer Sicherheitsbehörden offenbart. Mit der bereits abgeschlossenen Verfassungsschutzreform, die öffentliche PKG-Sitzungen, gesetzlichen Regelungen zum Einsatz von V-Leuten sowie der Schwerpunktsetzung der Polizeiarbeit bei der Aus- und Fortbildung und Bekämpfung rechter Straftaten beinhaltet, haben wir wichtige neue Punkte gesetzt. Zudem wird in Nordrhein-Westfalen derzeit ein Handlungskonzept gegen Rassismus und Rechtsextremismus erarbeitet.

Die Stärke des Untersuchungsausschusses im Deutschen Bundestag lag darin, dass alle Fraktionen gemeinsam an der Aufklärung und der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen gearbeitet haben. Darauf setzen wir auch im nordrhein-westfälischen Landtag und werden uns unabhängig für größtmögliche Aufklärung einsetzen.

Über die Sitzungen des Untersuchungsausschusses werden wir regelmäßig in unserem Newsletter und auf unserer Website informieren. Erste Informationen zu dem Einsetzungsbeschluss, unseren Fragenstellungen und unseren Schwerpunkten haben wir auf hier auf unserer Website eingestellt.

Viele Grüße aus dem Landtag

Verena Schäffer